Lesepr.Mutter,Töchter und andere Krisen

1. Annette

Als Anette in die Waldstraße einbog und die Abendsonne ihr Haus in ein goldenes Licht tauchte, empfand sie für einen Moment ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Doch gleich darauf fiel ihr ein, dass es mit der Ruhe in nächster Zeit nicht weit her sein würde. Mit einer gewissen Erleichterung stellte sie fest, dass kein Möbelwagen mehr vor dem Haus stand, nur der grüne Clio ihrer Tochter parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Auf Knopfdruck öffnete sich summend das Garagentor. Sie wollte schon losfahren, als sie gerade noch rechtzeitig bemerkte, dass die Garage mit Möbelstücken voll geräumt war. Seufzend parkte sie ihren Wagen auf der Straße. ‚Nur nicht aufregen‘, nahm sie sich vor, doch als sie ihre Tochter, Monika, in der Küche seelenruhig Gemüse schnipseln sah, konnte sie sich die Frage, wann denn das Möbellager in ihrer Garage wieder geräumt werde, doch nicht verkneifen.

„Das stört doch nicht“, antwortete Monika unbekümmert und schüttete die gehackten Zwiebeln ins heiße Fett.

„Das kann man so nicht sagen“, brummte Annette und verzog sich in den oberen Stock, der ihr alleiniges Reich bleiben sollte.

Als sie wenig später, frisch geduscht und mit einem Glas Sherry in der Hand, in die Wohnküche kam, war der gemütliche Ecktisch in der Veranda bereits gedeckt, ihre Enkelin Sarah hüpfte ihr fröhlich entgegen und es duftete nach allen möglichen Gewürzen. Sie setzte sich auf die gepolsterte Eckbank, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und nippte genüsslich an ihrem Sherry.

„Was gibt’s denn Gutes?“

„Krautsuppe.“

„Krautsuppe?“, wiederholte sie mit mehr Erstaunen als Begeisterung.

„Mit Wurst?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Hast du schon einmal gelesen, welche Inhaltsstoffe in so einer Wurst stecken?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich esse gelegentlich ein Würstel, aber wenn ich etwas lesen möchte, nehme ich mir ein Buch.“

Als Monika darauf keine Antwort gab, setzte sie versöhnlich hinzu: „Also gut, Krautsuppe. Und was dazu?“

„Wenn du möchtest, kann ich noch etwas Knoblauchbrot machen.“

„Knoblauchbrot wäre wunderbar“, antwortete Anette ohne Überzeugung, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete ihre Tochter, die mit geübter Hand Knoblauchbutter zubereitete.

Die Sache mit der gemeinsamen Küche war vielleicht doch keine so gute Idee, gleich morgen würde sie den Tischler anrufen – Platz für eine eigene Küche hatte sie genug.

Das Knoblauchbrot verbreitete einen umwerfenden Duft, und als sie sich endlich zu Tisch setzten, musste sie zugeben, dass die Suppe ebenso köstlich schmeckte, wie sie schon zuvor gerochen hatte.

Das Abendessen verlief friedlich, doch während Monika den Suppentopf abservierte, hielt ein Wagen vor dem Haus. „Papi!“, rief Sarah und stürmte davon.

Monikas Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten: „Das darf doch nicht wahr sein! Wir sind doch nicht ausgezogen damit er uns jetzt hier belästi…“

„Besucht – wolltest du hoffentlich sagen“, fiel Annette ihr ins Wort und ging ihrem Schwiegersohn entgegen, der – mit einem Blumenstrauß bewaffnet – die Wohnküche betrat.

Er küsste erst Annette pflichtschuldigst auf die Wange und wandte sich dann an Monika: „Ich wollte nur nachschauen, wie es der neuen Damen-WG nach einem harten Umzugstag geht“, und hielt ihr einen ebenso großen wie geschmackvollen Blumenstrauß entgegen. Monika taxierte den Strauß aus weißem Flieder und Rosen.

„Das hättest du dir sparen können – vor allem die da“, sie deutete auf die rote Rose in der Mitte.

Udo besah sich den Strauß, als sähe er ihn zum ersten Mal und zupfte die rote Rose heraus: „Entschuldige! Die ist natürlich für meine Schwiegermama.“ Er überreichte sie ihr mit einer leichten Verbeugung.

„Dacht’ ich mir’s doch“, lachte Annette und ging kopfschüttelnd davon, um zwei Vasen zu holen.

Als sie zurückkam, hatte Sarah ihren Vater bereits ins Wohnzimmer geschleppt, wobei die Bezeichnung Zimmer für den mehr als sechzig Quadratmeter großen Raum eigentlich eine Untertreibung war. Sie ließ sich in die edle Garnitur aus kognakfarbenem Leder sinken und fragte Udo, ob er vielleicht etwas Krautsuppe möchte.

„Ich habe leider schon gegessen“, Udo zwinkerte verschwörerisch, „aber ein Bier wäre phantastisch!“

„Gut, da trink ich auch ein Glas mit.“ Sie holte zwei Gläser aus dem Schrank und ging Richtung Küche, um Bier zu holen.

„Im Eiskasten findest du nur Milch, Apfelsaft und Mineralwasser“, rief ihr Monika nach, die eben ins Zimmer gekommen war. „Das andere Zeug habe ich in den Keller getragen.“

Annette machte auf dem Absatz kehrt: „Dann solltest du das andere Zeug schnell wieder aus dem Keller holen.“

Monika funkelte ihre Mutter böse an und Sarah rief eilig: „Ich gehe in den Keller. Darf ich mir eine Cola mitnehmen?“

„Klar“, antwortete Annette ohne nachzudenken und erntete dafür einen Kuss von Sarah und einen ärgerlichen Blick von Monika.

„Du weißt, dass Sarah dieses künstliche Zeug nicht trinken soll, also bitte, halte dich daran!“

„Reg’ dich nicht auf, du hast als Kind auch gelegentlich Cola getrunken und ich kann nicht erkennen, dass es dir geschadet hat.“

Jetzt war Monika wütend, Annette erkannte das an dem Funkeln ihrer Augen, und wie immer, wenn Monika wütend war, holte sie zum Rundumschlag aus: „Damit das ein für allemal klar ist: Sarah ist meine Tochter und ich will nicht, dass sie Cola trinkt, ich will nicht, dass du in ihrer Gegenwart rauchst und Alkohol trinkst und schon gar nicht will ich“, dabei wandte sie sich an Udo „dass DU hier herumhängst. Dafür bin ich nämlich nicht ausgezogen!“ Sie eilte zur Tür, machte aber noch einmal halt, kam zurück und zischte Udo an: „Wenn du schon hier auftauchst und mir ebenso sinnlose wie sündteure Blumensträuße bringst, solltest du vielleicht daran denken, dass auch du eine Tochter hast!“

„Wenn ich Sarah Süßigkeiten bringe, geht das Theater ja erst richtig los!“

„Vielleicht könntest du einmal darüber nachdenken ihr etwas anderes zu schenken als ungesunde Süßigkeiten“, fauchte sie. „Was denn?“, fauchte Udo zurück „Soll ich ihr rote Rüben bringen?“

„Wie wär’s mit Obst?“

„Kaufst du doch kiloweise, genauso gut könnte ich auch braunen Zucker oder eine Ingwerwurzel bringen. Worüber würde sie sich mehr freuen?“

„Du bist eingebildet und selbstgerecht!“

Mit dieser nicht ganz schlüssigen Antwort verließ Monika endgültig das Wohnzimmer und die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihr ins Schloss.

Im nächsten Moment erschien Sarah: „Ist Mama jetzt böse?“

„Nicht deinetwegen, Prinzessin“, antwortete Udo.

„Klar meinetwegen, ich darf doch keine Cola trinken.“

„Na ja, nicht täglich“, schaltete Annette sich ein. „Aber heute ist doch ein besonderer Tag. Also geh und hol dir ein Glas, wir wollen auf euren Einzug anstoßen.“

Das taten sie dann auch, aber irgendwie war die Stimmung gedrückt und die Cola schmeckte bestimmt ebenso schal wie das kühle Bier. Udo verabschiedete sich wenig später, steckte Sarah noch einen Zehn-Euroschein zu, küsste sie auf die Nasenspitze und versprach, sich bald wieder zu melden.

Sarah ließ den Geldschein blitzartig in ihrem Shirt verschwinden.

Annette lächelte. Sie wusste, dass Sarah gelegentliche Zuwendungen dafür verwendete Süßigkeiten und Hamburger zu kaufen. Alles Dinge, die Monika nicht erlaubte.

Sie hielt wenig davon, alles zu verbieten und war immer viel lockerer gewesen. Vielleicht legte Monika gerade deswegen so   viel Wert darauf, schließlich waren sie ganz selten einer Meinung, eigentlich nie.

Sie schickte Sarah ins Bad und ging in die Küche. Während sie die Gläser in den Geschirrspüler räumte dachte sie:

Für ihre zehn Jahre, war Sarah schon ein sehr eigenständiges Persönchen. Sicher würde sie Monika noch viel Freude machen.

 

2. Ernst

Ernst hatte das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt und versuchte seiner Exfrau die volle Aufmerksamkeit zu schenken, während er mit einer Hand sein Auto aufsperrte und in der anderen eine Pizzaschachtel balancierte.

„Ich sage es nur ungern, aber unsere Tochter tickt nicht richtig!“, hörte er Annette sagen.

„Und ich schließe daraus, ihr habt euch gleich am ersten Abend gezankt“, antwortete er und ließ sich auf den Sitz fallen. Geschafft!

Seit Annette und er geschieden waren, hatte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen entwickelt, die ihm heute tragfähiger schien als alles, was sie davor gehabt hatten. Sie telefonierten häufig und ab und zu trafen sie sich auf eine Tasse Kaffee oder um eine Runde Golf zu spielen.

„Das musst du dir mal auf der Zunge zergehen lassen“, hörte er Annette sagen. „Gestern Abend wollte sie mir verbieten, in meinem eigenen Haus, eine Zigarette zu rauchen und einen Drink zu nehmen.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass dich das nicht sehr beeindruckt hat.“

„Beeindruckt nicht, geärgert schon.“

„Monika hat eben immer noch das Gefühl, dass es auch ihr Zuhause ist, schließlich ist es ihr Elternhaus“, entgegnete er und startete seinen Wagen.

„Sie ist erwachsen und hat ihre eigene Familie. Wenn sie zurückkommt, weil sie, eines lächerlichen Streites wegen, eine Beziehungspause einlegt“, Annette betonte das Wort Beziehungspause, als ob es sich dabei um Gift handle, „hat sie verdammt noch mal anzuerkennen, dass sie bei mir zu Gast ist.“

„Gast?“, sagte Ernst nachdenklich. „Also ich weiß nicht so recht, Gast scheint mir auch nicht das richtige Wort.“

„Soll ich Untermieter sagen? Das würde aber voraussetzen, dass sie Miete bezahlt – oder zumindest Betriebskosten – und davon kann keine Rede sein. Wovon denn auch?“ Annettes Stimme klang sachlich, wie immer.

„Du weißt doch, wie verschieden ihr seid“, erwiderte er, ohne auf die Kostenfrage einzugehen. „Ihr müsst eben beide versuchen euch so zu akzeptieren wie ihr seid und euch möglichst …“ Er suchte nach Worten.

„Aus dem Weg gehen“, half Annette aus.

„Das wollte ich eigentlich nicht sagen, aber möglichst wenig einschränken, gegenseitig.“

„Also doch aus dem Weg gehen.“

Gefährliches Terrain. Er versuchte einen Themenwechsel: „Dann wird heuer aus unserem Osterbrunch wohl nichts werden?“

„Der findet selbstverständlich statt, Ostersonntag, elf Uhr, wie immer!“

„Hast du mit Monika schon darüber gesprochen?“

Eine rein rhetorische Frage, er war sicher, dass sie es nicht getan hatte.

„Nein, wozu auch. Die brächte es fertig, selbst den Osterschinken ohne Fleisch zuzubereiten. Wenn es nach Monika ginge, bekämen wir etwas Spinat, vielleicht ein Ei und Apfelsaft“, lachte Annette.

Wie vertraut ihm dieses Lachen war.

„Zugegeben, da ist mir dein saftiger Osterschinken schon lieber, von deinen wundervoll gefüllten Eiern und dem gebeizten Lachs will ich erst gar nicht reden. Niemand macht besseres Lachs-Carpaccio als du. Aber wer wird dabei sein? Udo? Seine Eltern? Dein Poldi?“

„Auf den Poldi wirst du hinkünftig verzichten müssen, der ist endgültig an den häuslichen Herd zurückgekehrt.“

Das hörte er gerne. Mit ihrem Freund Poldi hatte er sich ohnehin noch nie anfreunden können. Dennoch fragte er:

„Bedauerst du es?“ Ihr Wohlergehen lag ihm immer noch sehr am Herzen und er hätte sein eigenes Leben nicht so zufrieden leben können, wenn es ihr nicht gut gegangen wäre.

„Nicht allzu sehr“, beruhigte sie ihn, „Udo und seine Eltern werden selbstverständlich dabei sein, schließlich sind sie ebenso Sarahs Großeltern wie du und ich“, fuhr sie weiter fort. Er konnte sich vorstellen, dass Monika von diesem Plan wenig erbaut sein würde, sagte aber nur:

„Du machst das schon“, und war wieder einmal ganz froh, sich außerhalb der Schusslinie zu befinden, denn zwischen Mutter und Tochter fanden des Öfteren Schusswechsel statt, wenngleich rein verbal.

„Ich soll dich übrigens von Franziska grüßen und fragen, ob in einem deiner Häuser vielleicht eine Wohnung frei wird, die sich als Ordination eignen würde?“

„Nicht dass ich wüsste. Wird Franziska endlich eine eigene Praxis aufmachen?“

Er bog in die Sackgasse ein, die zu seiner Garage führte, während er antwortete: „Du weißt ja, wie unzufrieden sie mit ihrem Job als Schulärztin ist, und dann hat sie doch voriges Jahr diese TCM-Ausbildung gemacht.“

„Du meinst Akupunktur und so?“

„Richtig. Traditionelle chinesische Medizin. Sie möchte eine Praxis, in der sie auch diese alternativen Heilmethoden anwenden kann.“

„Find’ ich gut. Den Job als Schulärztin hat sie ohnehin nie gewollt. Den hast du ihr eingeredet, wenn ich dich erinnern darf. Ich würde gerne helfen, aber ich wüsste nicht, dass etwas frei werden sollte.“

Ernst wusste, dass sich zwischen Franziska und Annette eine Beziehung entwickelt hatte, die man mit Fug und Recht als Freundschaft bezeichnen konnte.

„Macht nichts, es eilt nicht so. Aber ich habe dich gefragt, vergiss das nicht.“

Annette lachte: „Du solltest froh sein, dass Franziska so engagiert ist. Ab Herbst wird dein Salär doch etwas geschmälert.“

„Du meinst, weil mich diese Brüder in Pension schicken wollen. Erinnere mich bloß nicht daran. Und kein Wort zu Franziska, hörst du!“

„Nein, natürlich nicht. Aber schön langsam wird es Zeit, dass du es ihr sagst, schließlich gehst du in den Ruhestand und nicht ins Gefängnis.“

„Ja, ja, ich weiß“, maulte er und verabschiedete sich.

Sicher hält sie mich jetzt wieder für einen Feigling, dachte er, während er mit seiner Pizzaschachtel über die Straße eilte.

 

Ernst konnte sich gut vorstellen, dass es in der Villa bald turbulent zugehen würde. Gab es zwei unterschiedlichere Menschen als Annette und Monika?

Annette war durch und durch Geschäftsfrau. Alles an ihr wirkte edel und elegant, manchmal auch unterkühlt.

Monika war nicht nur kleiner, sie war viel emotionaler und an Annettes Firma gänzlich uninteressiert. Was Monika für gefühlvoll hielt, war für Annette Gefühlsduselei und wenn Monika von einer emotionalen Reaktion sprach, nannte Annette das hysterisch.

Nun, er würde sich mit Vermittlungsversuchen zurückhalten, denn es war schon vorgekommen, dass er es sich bei solchen Gelegenheiten mit beiden verscherzt hatte.

Zurzeit hatte er ohnehin andere Sorgen, denn er hatte immer noch keine Ahnung, wie er Franziska beibringen sollte, dass man ihn ab Herbst in Pension schicken würde. Nur Annette hatte er bisher davon erzählt.

Er war immer mit Leib und Seele Lehrer gewesen und hatte nie verstanden, was Annette an ihren Boutiquen, ihrer Selbständigkeit und der vielen Arbeit, die damit verbunden war, gar so toll fand. Aber dass sie jetzt selbst bestimmen konnte, wann und in welchem Ausmaß sie sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen würde, das war schon ein riesiger Vorteil.

Nun gut. Diese Pizza hier, die würde er Franziska verschweigen, er durfte nur nicht vergessen, die Schachtel in den Papiercontainer zu werfen, aber von der bevorstehenden Pensionierung musste er ihr wohl oder übel bald berichten. Wenn es nur nicht so verdammt schwierig wäre. Franziska war neununddreißig und steckte voller Pläne. Bisher war der Altersunterschied kein Thema gewesen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was es hieß, eine Frau zu haben, die dreiundzwanzig Jahre jünger war.