- Eisregen – Winter 2018
„Du solltest jetzt wirklich nicht mehr mit dem Auto fahren“, meinte Gisela Nowak.
„Wegen der zwei Gläser Wein? Lächerlich.“
„Nicht zu vergessen das Bier, das du zum Essen getrunken hast. Du kannst gerne im Gästezimmer übernachten.“
„Das hättest du wohl gerne“, grinste Joachim Warholz.
„Meinst du, ich schlafe besser, wenn ich dich schnarchen höre? Mein Sohn Moriz fährt nie mit dem Auto, wenn er mehr als ein Glas getrunken hat. Dein Neffe Rainer, unser werter Herr Direktor, übrigens auch nicht.“
„Ich hoffe, du willst mich nicht mit diesen Simandln vergleichen. Männer wollen das sein? Dass ich nicht lache. Memmen, alle miteinander. Benehmen sich doch wie alte Jungfern“, donnerte Joachim Warholz. „Seit Rainer mit dieser Ärztin zusammen ist, ist’s ganz aus mit ihm. Neuerdings isst er mittags Salat und trinkt erst ab 18 Uhr Alkohol. Ein ausgewachsenes Mannsbild. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.“
Gisela war Joachim Warholz seit 30 Jahren sowohl privat als auch beruflich treu ergeben und schon deshalb keine Freundin seines Neffen Rainer Breininger, doch in diesem Punkt musste sie Breininger recht geben. Das würde sie allerdings nicht sagen, dann machte Joachim doch erst recht das Gegenteil. Sie kannte ihn wie ihre Westentasche. Allein der Hinweis auf ihren Sohn und seinen Neffen war falsch gewesen – sie hätte es wissen müssen.
Um den Schaden zu begrenzen, sagte sie: „Es geht ja auch gar nicht so sehr um den Alkohol. Die Straßen sind von diesem Eisregen bestimmt spiegelglatt. Ich würde jedenfalls nicht mehr fahren.“
In der Zwischenzeit hatte Joachim Warholz sich aus dem Fauteuil gehievt und murmelte: „Das ist auch besser so“, während er ins Vorzimmer humpelte.
„Hast du schon wieder Schmerzen?“
Joachim winkte ab. „Nicht der Rede wert.“
„Rufst du mich an, wenn du angekommen bist?“
Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Bist du neuerdings meine Gouvernante?“
„Mach doch, was du willst, alter Sturschädel, aber fahr vorsichtig!“
„Ja, ja, wir sehen uns dann morgen, wie immer um acht. Dann zeigen wir dem jungen Gemüse noch einmal, wo der Bartl den Most holt. Also, tschüss.“
***
Etwa zur gleichen Zeit sah Franziska Wiedermann vom Fenster aus zu, wie ihr Sohn Florian vom Nachbarhaus zur Villa schlitterte.
„Boah, ist das eisig“, war auch das Erste, was er sagte, als er zur Tür hereinkam.
„Siehst du“, wandte sich Franziska an Rainer Breininger. „Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn du heute hierbleibst.“
„Also Zufußgehen kannst du vergessen und mit dem Auto ist es sicher auch blöd“, setzte Florian hinzu.
„Tja, dann muss ich euren Vorschlag leider annehmen“, meinte Rainer mit einem zufriedenen Lächeln.
„Arm“, antwortete Florian grinsend.
„Die Lernstunde mit Sarah hat ja ewig gedauert“, lenkte Franziska das Gespräch in eine andere Richtung.
Florian nickte. „War echt Schwerarbeit. Sarah wird diese Winkelfunktionen nie verstehen.“
„Das kann ich nachvollziehen, die habe ich auch nie verstanden“, bekannte seine Mutter. „Außer den Begriffen Sinus und Kosinus habe ich mir nichts davon gemerkt.“
„Was fällt dir zu Winkelfunktionen ein?“, fragte Florian mit Blick auf Rainer.
„Ich glaube, es gab auch noch Tangens und Kotangens.“
„Richtig. Und sonst?“
Rainer schüttelte den Kopf. „Sonst nichts mehr.“
„Na bravo“, spottete Florian, der als Mathegenie der Familie galt. „Und mir erzählt ihr dann wieder, dass man in der Schule fürs Leben lernt. Ich geh jetzt unter die Dusche und hau mich in die Federn. Sarah hat mich echt fertiggemacht mit ihren blöden Fragen. Wünsche den Turteltauben noch einen schönen Abend.“
„Frechdachs“, rief Franziska ihm lächelnd nach. Dann wandte sie sich an Rainer: „Nachdem nun geklärt ist, dass du bleibst, stünde einem Schlummertrunk nichts im Wege.“
„Gute Idee. Ich nehme einen Schluck von diesem köstlichen Rotwein.“
Während Franziska Rotwein für Rainer und Prosecco für sich einschenkte, fragte sie: „Du sprachst vorhin davon, dass du morgen einen harten Tag vor dir hast. Was steht an?“
„Ein weiteres Gespräch mit der Belegschaftsvertretung, bei dem nicht nur Altmann und ich, sondern auch unser allseits verehrter Aufsichtsratschef zugegen sein wird. Wie ich Onkel Joachim kenne, dürfte er einmal mehr versuchen, Feuer mit Öl zu löschen.“
„Dein Onkel macht dir das Leben ganz schön schwer.“
Rainer nickte. „O ja. Persönlich halte ich das ja aus, wenn es auch mühsam ist. Schlimmer ist, dass er damit alle Veränderungs- und Verbesserungsmaßnahmen verzögert, weil Altmann als Prokurist und Betriebsleiter der Druckereien alles, was Joachim sagt, widerspruchslos übernimmt.“
„Damit stellt Altmann sich gegen die aktuelle Geschäftsleitung. Das ist doch verrückt.“
„Das ist es allerdings. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich das hinkünftig nicht mehr tolerieren werde. Morgen kommt vermutlich die Stunde der Wahrheit. Wenn er die Veränderungen wieder nicht mittragen will, muss er sich um einen neuen Job umsehen.“
„Und warum tut er das? Altmann ist ja nicht dumm. Die Konsequenzen müssen ihm doch klar sein.“
Rainer seufzte. „Ich kann es zwar nicht beweisen, vermute aber, dass Joachim ihn dafür bezahlt – oder auch Altmanns Partei sponsert, was weiß ich. Altmann will bekanntlich seit Längerem Bürgermeister werden. Ich denke, mein Onkel hat versprochen, seinen Wahlkampf zu finanzieren.“
„Aus seinem Privatvermögen?“
„Ja, klar. Von der Warholz AG bekommt keine Partei auch nur einen Cent. Unser Land war schon lange nicht mehr so gespalten wie zurzeit, da halte ich es für keine schlaue Idee, ausgerechnet als Zeitschriftenverlag eine Partei zu sponsern.“
„Aber wenn deine Vermutung stimmt, ist das doch nichts anderes als Bestechung.“
Rainer nickte. „Damit hatte Onkel Joachim noch nie ein Problem.“
„Schon möglich, aber was bezweckt er mit diesem Sponsoring?“
„Sponsoring klingt gut“, lächelte Rainer. „Er will sämtliche Änderungen verhindern, die seiner Meinung nach Geld kosten. Du weißt, ich möchte neue Geschäftsfelder erschließen. Das kostet anfangs natürlich Geld, ist aber langfristig überlebensnotwendig. Die Welt steht bekanntlich nicht still und die der Printmedien verändert sich aktuell besonders schnell. Ohne Werbung und Marketing läuft heute gar nichts. Aber das will Joachim nicht einsehen. Mag ja sein, dass für die Gesellschafter kurze Zeit weniger Dividende übrig bleibt, dafür sichern wir langfristig das Überleben des Verlags. Doch mein lieber Onkel stellt sich gegen jegliche Investition und sitzt auf seinem Geld wie weiland Dagobert Duck.“
***
Als Rainer am nächsten Tag ins Büro kam, herrschte helle Aufregung.
„Was ist los?“, fragte er seine Assistentin Helene.
„Die Nowak dreht am Rad, weil ihr Boss noch nicht da ist.“
Rainer stutzte. „Schon halb neun und Onkel Joachim ist noch nicht da? Das ist in der Tat ungewöhnlich. Hat schon jemand in seinem Haus …“
In dem Moment stürzte Gisela Nowak in Rainers Büro. Sie war kreidebleich und stieß hervor: „Ich hab’s gewusst. Ich hab ihm doch gesagt …“ Der Rest ging in Schluchzen unter.
Rainer schob ihr vorsichtshalber einen Sessel hin und fragte ganz ruhig: „Frau Nowak, was ist passiert?“
„Joachim … Ihr Onkel“, schluchzte sie. „Er ist tot. Einfach tot.“
Kurze Zeit später wussten sie, was vorgefallen war. Joachim hatte auf dem Heimweg die Kontrolle über seinen Wagen verloren und war gegen einen Baum geprallt. Vermutlich infolge des schlechten Wetters war erst Stunden später ein Wagen der Autobahnmeisterei auf den Unfall aufmerksam geworden. Da war Joachim bereits tot gewesen.
***
„So tragisch das ist“, sagte Rainer am Abend zu Franziska, „aber meine Mutter hat leider recht. Er ist an seiner eigenen Sturheit zugrunde gegangen. Die Nowak hat erzählt, er wäre gegen zehn Uhr abends bei ihr losgefahren. Das war exakt die Zeit, als Florian von den Eschners gekommen ist und gesagt hat, es sei spiegelglatt. Worauf wir beschlossen haben, dass ich bei euch bleibe. Ein solches Angebot hat Frau Nowak Joachim auch gemacht, aber er wollte nicht. Kommt dazu, dass er müde war, und getrunken hatte er auch.“