Bonusgeschichte „Tante Adelheids Tagebuch“

Aus Tante Adelheids Tagebuch

„Das gibt’s ja nicht, wir haben doch alles danach abgesucht“, sagte Gloria mehr zu sich selbst. In einem Regal der Bücherwand, unauffällig zwischen anderen Büchern, stand Tante Adelheids Tagebuch. Einfach so. Danach hatte sie in den ersten Monaten im Schloss intensiv gesucht. Wie hatten sie es nur übersehen können? Ungläubig blätterte sie darin, dann schnappte sie es und eilte in Daniels Studierstube.

„Schau, was ich hier habe!“

Er sah nur kurz auf. „Ein altes Buch.“

„Das ist nicht irgendein Buch, das ist Tante Adelheids Tagebuch!“

„Echt? Ich habe damals jedes Buch einzeln in der Hand gehabt.“

„Offenbar nicht.“

„Wo hast du es gefunden?“

„In der Bibliothek, wo sonst.“

„Erstaunlich“, murmelte Daniel nur, dann wandte er sich wieder seinen Schularbeiten zu. Schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

Kopfschüttelnd ging Gloria in die Wohnküche und blätterte ihr Fundstück genauer durch. Die Eintragungen reichten von 1930 bis ins Jahr 2015. Ein ganzes Leben in einem einzigen Tagebuch? Da dürfte ihre Tante aber keine besonders eifrige Schreiberin gewesen sein. Eigentlich hatte Gloria heute nach etwas ganz anderem gesucht, aber das konnte warten. Kurz entschlossen machte sie sich eine Tasse heiße Schokolade, setzte sich in ihren geliebten Schaukelstuhl und begann zu lesen: 

April 1930

Mein Name ist Adelheid (von) Waldstetten und heute ist mein 10. Geburtstag. In der Schule sagen alle Heidi zu mir, aber meine Eltern nennen mich Adelheid. Mein Vater sagt, ich bin eine geborene Baronesse. In Waldstetten sagen auch alle Herr Baron zu meinem Vater. Nur der Herr Lehrer nicht. Der sagt, wir leben jetzt in einer Republik, deswegen gäbe es keine Adelstitel. Also schreibe ich das „von“ sicherheitshalber in Klammern. Ich wäre allerdings sehr gerne eine Baronesse.

Sicher ist, dass wir in einem Schloss wohnen. Leider liegt es etwas außerhalb und zu Fuß geht man fast eine Stunde, um nach Waldstetten zu kommen. Deswegen sehe ich meine Freundin Leni auch meist nur in der Schule.

Jetzt muss ich Schluss machen, meine Großeltern kommen zur Geburtstagsjause. Dann bekomme ich vermutlich wieder Bücher und die Geburtstagstorte. Aber mein größtes Geschenk ist, dass mein Vater mir heute Morgen versprochen hat, mit dem Herrn Lehrer zu reden, wegen Leni, seiner Tochter, damit sie auch aufs Gymnasium gehen darf.

Mein Vater hat mich schon vor Wochen dort angemeldet. Die Schule ist in Horn, deshalb werde ich wochentags auch dort wohnen und würde mich sehr freuen, wenn Leni mitkommen könnte. Aber ihr Vater sagt, das sei zu teuer und zahlt sich für Mädchen gar nicht aus. Dabei ist Leni eine ebenso gute Schülerin wie ich. Wir sind beide sehr traurig darüber.

Mai 1930

Jetzt darf Leni doch mit mir aufs Gymnasium. Ich freue mich riesig! Ihr Vater war erst dagegen, aber dann hat mein Vater mit ihm geredet und jetzt darf sie doch mitkommen. Leni ist sehr froh darüber, auch deshalb, weil ihre Eltern stets sagen, als Tochter des Lehrers müsse sie ein Vorbild sein und sehr streng mit ihr sind. Im Vergleich zu Leni geht es mir ganz gut, nur meine kleine Schwester ist die reinste Nervensäge. Die hätten wir nicht gebraucht.

Meine Mutter sagt, sie hätte mir das Internat gerne erspart. Außerdem sei es für ein Mädchen wichtiger, handarbeiten und kochen zu lernen, statt Mathematik und Latein. Aber ich will doch Ärztin werden, also brauche ich Latein. Jetzt, wo Leni mitkommt, freue ich mich auf das Internat. Meine Mutter hat, seit meine Schwester Margit auf der Welt ist, ohnehin keine Zeit mehr für mich.

Juli 1930

Mein Tagebuch hat ein Schloss, aber ich lasse es immer offen liegen. Meine Mutter hat neulich darin geblättert und gesagt, ein Tagebuch hieße deswegen ‚Tage-Buch‘, weil man jeden Tag etwas hineinschreibt und es sei für ein junges Mädchen sehr wichtig, seine Gefühle aufzuschreiben.

Ich weiß aber nicht, was ich da schreiben soll, trotzdem habe ich ihr versprochen, später mehr zu schreiben, jetzt habe ich einfach zu wenig Zeit. Gleich kommt Vater, dann gehen wir fischen.

Gloria lächelte. Besonders zartbesaitet schien ihre Tante nicht gewesen zu sein und eine eifrige Schreiberin war sie auch nicht. Die Freude am Schreiben und Formulieren hatte Gloria schon einmal nicht von ihr. Sie blätterte weiter. Der nächste Eintrag lautete:

August 1930

Mein Koffer ist gepackt, morgen bringt uns mein Vater in die neue Schule. Ich bin schon sehr gespannt. Meine Mutter hat heute beim Kofferpacken geweint. Erst hat sie gesagt, meine Schwester werde traurig sein, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe ihr geantwortet: „Der wird das gar nicht auffallen“. Dann hat Mutter gesagt, das alles sei für sie schwer zu ertragen und überhaupt sei das alles Unsinn, als Frau braucht man keine Matura. Dabei weiß sie doch, dass ich Ärztin werden will. Zum Glück ist mein Vater dazugekommen und hat ihr gesagt, sie möge jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.

Ich verstehe meine Mutter nicht, schließlich komme ich doch jedes Wochenende heim. Jetzt muss ich mich noch von den Pferden verabschieden, vor allem von Lisa, auf ihr habe ich im Vorjahr reiten gelernt.

Meine Schwester werde ich bestimmt nicht vermissen, aber Lisa wird mir fehlen.

Es folgten ein paar Belanglosigkeiten aus dem Internatsleben, die Gloria nur überflog. Einige Seiten später wurde es wieder spannend.

Juni 1938

Endlich habe ich mein Maturazeugnis in der Tasche! Schade nur, dass es mit dem Studium in Wien vorerst nichts werden kann, aber Vater sagt, in Zeiten wie diesen wäre es unverantwortlich, mich nach Wien gehen zu lassen. Spätestens seit Hitler im März die Macht übernommen hat, ist die Situation sehr unübersichtlich. Nieder- und Oberösterreich wurden in „Nieder- und Oberdonau“ umbenannt, aber das ist vermutlich noch das Wenigste. Ich verstehe ja, dass meine Eltern mich jetzt nicht gehen lassen wollen, aber schade ist es trotzdem.

Zumindest darf ich unserem neuen Gemeindearzt in den nächsten Monaten zur Hand gehen. Er meinte, da seine Frau im Sommer ein Kind erwartet, käme das sehr gelegen. Ich werde also trotz allem in nächster Zeit viel zu lernen haben.

Meine Schwester Margit feiert übermorgen ihren zehnten Geburtstag. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in dem Alter noch so kindisch gewesen wäre. Mutter lässt ihr aber auch alles durchgehen und Vater schweigt zumeist.

Weihnachten 1938

Jetzt bin ich doch sehr froh, in Waldstetten zu sein, auch die Versorgungslage ist hier auf dem Land deutlich besser als in der Stadt. Im Doktorhaus ist viel für mich zu tun. Doktor Haas ist sehr zufrieden mit mir und meint, sobald die Sache mit diesem Hitler ausgestanden sei, müsse ich unbedingt Medizin studieren. Vater hat sagt, so schnell werde das wohl nichts.

Was in Wien passiert ist ein Wahnsinn. Erst der Sturm auf das Erzbischöfliche Palais und jetzt noch die Sache mit den Juden. Sind denn alle verrückt?

September 1939

Doktor Haas hat mich gebeten, auch weiterhin für ihn tätig zu sein. Das mache ich sehr gerne, zumal mein Studium in weite Ferne gerückt scheint. Vor wenigen Tagen sind deutsche Truppen in Polen einmarschiert. Manche Waldstettener sind ebenso begeistert wie optimistisch und meinen, das sei bald ausgestanden. Doktor Haas und Vater sind anderer Meinung, und ich fürchte, sie könnten recht haben.

Gloria lächelte. Auf diesen Doktor Haas schien ihre Tante große Stücke gehalten zu haben.

Weihnachten 1939

Franz, also Doktor Haas, hat mir zu Weihnachten ein medizinisches Lexikon geschenkt. Ich bin mit ihm und seiner Frau seit einigen Tagen per Du. Das Lexikon freut mich sehr und bestärkt mich darin, mein Studium auf jeden Fall aufzunehmen, sobald die Umstände es erlauben.

Franz ist schon ein ganz besonderer Mann. Klug, besonnen und humorvoll. Sollte ich eines Tages heiraten, müsste mein Mann genauso sein. Seine Familie kommt aus Krems und ist ebenfalls von Adel. Seine Frau Grete ist nett und eine gute Mutter. Ich glaube allerdings nicht, dass sie ihm in der Ordination eine große Stütze wäre.

Oh, oh, Tante Adelheid scheint ein Tendre für den Doktor entwickelt zu haben, dachte Gloria. Auch dass er adeliger Abstammung war, schien ihr ziemlich wichtig. Gloria blätterte ungeduldig weiter. Am meisten interessierte sie sich dafür, wie Tante Adelheid später Pfarrer Pecher kennengelernt haben mochte.

April 1945

Lange habe ich nichts in mein Tagebuch geschrieben, doch diese Nachricht ist es wert, berichtet zu werden: Endlich ist dieser furchtbare Krieg vorbei, die Ostmark heißt wieder Österreich – doch von Franz wissen wir immer noch nichts.

Vor einem Jahr hatte er doch noch einrücken müssen, kurze Zeit später war er als vermisst gemeldet worden. Grete hat die Hoffnung, ihn wiederzusehen, aufgegeben und ist mit den Kindern zu ihren Eltern ins Weinviertel gegangen. Ich selbst habe sie zur Bahn begleitet.

Das Doktorhaus steht nun leer, ich gieße die wenigen Blumen und hoffe dabei, dass Franz eines Tages vor der Tür steht.

Tantchen hat sich offenbar immer in die falschen Männer verliebt, dachte Gloria und blätterte wieder weiter.

Herbst 1946

Im Doktorhaus arbeitet nun Doktor Sommer. Er ist selbst Kriegsinvalide, vielleicht versucht er gerade deswegen mit aller Macht, die Wunden und die Trauer der Heimkehrer zu kurieren – so gut es eben geht. Einfach ist das nicht, auch weil er selbst viel mehr Hilfe bräuchte, als er zugibt.

Ich helfe ihm nach Kräften. Von Franz immer noch keine Spur. Ich hoffe so sehr, dass er noch am Leben ist.

Margit macht indes den Besatzungssoldaten schöne Augen. Ich finde es furchtbar, wie sie sich benimmt, gar nicht wie eine Baronesse, aber Mutter meint, Margit sei noch so jung, sie wisse es eben nicht besser. Wie bitte? Ich bin nicht sicher, was sie gesagt hätte, wenn ich mich so aufführte, was mir allerdings ohnehin nie in den Sinn gekommen wäre. Vater hat sie dann gefragt, wie sie erreichen will, dass Margit es eines Tages doch noch „besser weiß“?

Großtantchen hatte offenbar ein ausgeprägtes Standesbewusstsein, während Oma ein heißer Feger gewesen sein dürfte, dachte Gloria erstaunt. Ausgerechnet Oma. Schon komisch. Sie hatte ihre Großmutter immer für eine biedere Hausfrau gehalten – im Vergleich zu Tante Emma, Onkel Konrads Frau, war sie das auch gewesen.

Weihnachten 1947

Mit Jahresbeginn bekommt Waldstetten einen neuen Arzt. Doktor Sommer musste sich aus dem rauen Alltag in eine Rehaklinik zurückziehen. Er hofft, dass er später dort als Arzt mitarbeiten kann. Ich wünsche es ihm von Herzen.

Doch damit endet vorerst leider auch mein Dienst im Doktorhaus, was ich sehr bedaure, obwohl es mit Doktor Sommer nicht immer leicht war.

Vater hat einige Felder verkauft, trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht – zumindest nicht für ein Studium in Wien. Unser tüchtiger Verwalter ist für sein Vaterland auf dem „Feld der Ehre“ gefallen – wie so viele andere.

In den nächsten Tagen kommt erstmal ein Buchhalter aus Wien, um Vater wenigstens bei der Steuererklärung zu unterstützen. Vielleicht sollte ich wenigstens einen Buchhaltungskurs machen.

Ah, der Buchhalter, das war ihr Großvater gewesen, schmunzelte Gloria. Jetzt wurde es spannend. Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse. Die heiße Schokolade war inzwischen kalt. Gloria blätterte weiter.

Feber 1948

Meine Schwester Margit entwickelt sich zu einer echten Plage. Seit dieser Buchhalter aus Wien zu Gast war – er heißt Eberhard Hübsch und war gekommen, um Vater im Austausch für einen Sack Erdäpfel bei der Steuererklärung zu helfen, – hält sie sich für eine Sozialistin. Dabei interessiert sie sich überhaupt nicht für Politik.

Als neulich das Gespräch auf Herrn Hübsch und seine seltsamen Ansichten kam, kicherte sie erst wie eine dumme Gans und meinte dann, er sei der Mann ihrer Träume. Vater sagte ihr gleich, dass sie sich diesen Buchhalter aus dem Kopf schlagen kann, aber Margit entgegnete nur, es sei ihr egal, welche politischen Ansichten Eberhard habe, und rannte davon.

Am nächsten Tag setzte sie all dem noch die Krone auf und verkündete, wenn er Sozialist sei, dann werde sie eben auch Sozialistin. Da ist sogar meine Mutter entsetzt gewesen.

Nicht genug damit, in dieser Tonart ging es die nächsten Tage weiter. Kein Wunder, dass Vater am Ende der Kragen geplatzt ist. Zunächst hat er Margit ja noch schweigend zugehört, doch es war ihm anzusehen, wie verärgert er war. Gestern hat er dann zu Margit gesagt, für ihn sei das bekömmliche Ausmaß an Dummheit nun bei Weitem überschritten, er verbiete sich jedes weitere Wort über diesen Mann, und hat dann Margit auf ihr Zimmer geschickt. 

Diesmal stand nicht einmal Mutter auf ihrer Seite.

Oma war jedenfalls eine Kämpferin gewesen, das imponierte Gloria, aber wenn sie an ihren Großvater zurückdachte, fragte sie sich einmal mehr, ob der Kampf sich gelohnt hatte. Andererseits waren aus dieser Verbindung Onkel Konrad und ihre Mutter hervorgegangen. Gloria las weiter.

Ostern 1948

Margit will sich doch tatsächlich mit diesem Buchhalter verloben. Dabei ist sie noch nicht einmal großjährig und Eberhard hat es bisher nicht für notwendig erachtet, bei Vater um ihre Hand anzuhalten. Margit sagt, von solch althergebrachten Dingen halte Eberhard rein gar nichts, das sei gegen seine Überzeugung. Ich glaube ja eher, er traut sich einfach nicht. Kein Wunder bei dem Standesunterschied!

Bei Vater beißt Margit mit ihrem Ansinnen auf Granit, aber Mutter steht nun doch wieder auf ihrer Seite und sagt, sie sei auch noch nicht großjährig gewesen, als sie geheiratet hat. Dabei warf sie mir einen Blick zu, der wohl sagen mochte, dass es für mich langsam Zeit wäre, zu heiraten. Ich denke allerdings nicht daran. Sobald die Zeiten sich bessern und Vater wieder zu Geld kommt, wird er mir mein Studium finanzieren. Das hat er mir versprochen. Eines Mannes wegen werde ich bestimmt nicht auf das Studium verzichten.

Außer Franz käme zurück, das wäre etwas anderes. Grete hat die Hoffnung längst aufgegeben. Sie hat ihn für tot erklären lassen und wird bald wieder heiraten. Angeblich tut sie es für ihre Kinder. Sie hat mich sogar zur Hochzeit eingeladen. Ich glaube nicht, dass ich hinfahren werde, aber ich wünsche ihr alles Gute.

Sommer 1948

Ich fasse es nicht, Margit hat ihre Drohung wahr gemacht und ist mit diesem Eberhard auf und davon, um zu heiraten. Jetzt streiten meine Eltern darüber, ob sie Margit zurückholen sollen – dabei haben wir doch gar keine Ahnung, wo sie sein könnte.

Mutter meint, Margit sei noch ein Kind. Als ich ihr entgegenhielt, dass man mit 20 doch kein Kind mehr sei, hat sie mich angebrüllt: Vater und ich hätten Margit nie verstanden. Und überhaupt wäre das alles nicht allein Margits Schuld. Vater sei ebenso schuld – und ich auch. Nie hätten wir sie und ihre Anliegen ernst genommen. Wie hätten wir ihre dumme Rederei auch ernst nehmen sollen?

Am Tag darauf hat meine Mutter mir gestanden, dass Margit das Kind einer außerehelichen Beziehung ist. Sie nannte es ‚einer großen Liebe‘. Ich kann nicht sagen, dass ich besonders erstaunt bin. Über Mutters Fehltritt schon, das ja, aber irgendwie habe ich immer gespürt, dass Margit anders ist als ich. Trotzdem bleibe ich dabei: Margit ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, und sie weiß, was sie tut.

Vater hingegen sagt, ob Tochter oder Stieftochter ist einerlei, wer nicht freiwillig in seinem Hause bleibt, der kann es auch lassen.

Ostern 1955

Waldstetten hat einen neuen Pfarrer – Rupert Pecher. Jung und fesch ist er ja. Zu jung für diese Position, meint mein Vater, aber diesbezüglich sind wir nicht einer Meinung, denn ich schätze, Pfarrer Pecher und ich sind ungefähr im gleichen Alter, also kann er schon einmal nicht zu jung sein.

Er stammt aus Japons, einer Nachbargemeinde, hat die letzten Jahre als Kaplan in Wien verbracht und scheint eine Menge neuer Ideen zu haben – zumindest sagt das unser alter Pfarrer, der sich ins Kloster zurückziehen wird. Da ich seit einiger Zeit die Orgel spiele, werden wir einander sicher bald vorgestellt, dann kann ich mir selbst ein Bild machen.

1957

Zwischen Rupert und mir herrscht ein ganz besonderes Verhältnis. Wir empfinden eine tiefe Zuneigung füreinander. Natürlich respektiere ich seinen Stand, aber ich genieße es auch, wenn er kommt, um mir bei der Orgelprobe zuzuhören, mir danach in den Mantel hilft und dabei wie zufällig meine Hand berührt.

Trotz allem möchte ich ihm näher sein, spüre, wie unsere Ungeduld wächst. Aber – wohin sollte das führen? Es darf nicht sein. Ich muss vernünftig sein und stark bleiben.

Vernunft, sagt Mutter, sei meine Stärke. Klingt gut, doch in Wahrheit möchte sie mir damit sagen, dass es mir an Gefühl fehlt. Wie sehr sie sich doch irrt. Auch ich habe Gefühle – erst für Franz, nun für Rupert. Glücklicherweise fehlt mir Mutters Hang zum Drama.

Apropos Drama. Mutter leidet immer noch darunter, dass Margit sich so unversöhnlich zeigt. Vielleicht sollte ich ihr doch sagen, dass ich seit einiger Zeit Margits Adresse kenne. Die hat sie mir immerhin irgendwann mitgeteilt, allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Margit und dieser Eberhard wohnen nun in Bad Vöslau. Margit schreibt, es gehe ihnen gut. Freut mich. Außerdem ist sie der Meinung, dass wir sie vertrieben haben. Blödsinn. Ich glaube eher, dass Eberhard ihr das eingeredet hat und Margit es ihm in der Zwischenzeit schon glaubt –, zumal diese Version ihrem Gewissen sicherlich zupasskommt.

Weihnachten 1959

Wenn ich mit Rupert zusammen bin, habe ich das Gefühl, ganz ich selbst zu sein. Ich weiß, das klingt pathetisch, aber ich kann es nicht besser beschreiben.

Margit hat erstmals eine Weihnachtskarte an die Eltern geschickt und ein Foto. Es zeigt sie, Eberhard und einen Buben, etwa zehn Jahre alt, ihren Sohn. Zumindest sieht es so aus, als ginge es ihnen gut. Das Foto ist vermutlich Margits Reaktion auf den Brief, den Mutter ihr im Vorjahr geschrieben hat. Was genau darin stand, wissen wir nicht. Mutter hat Vater und mich nur darüber unterrichtet, gelesen haben wir ihn nicht.

1963

Mutter ist tot. Schon in den letzten Wochen schien es mir, als wäre sie nur noch körperlich anwesend. Nun ist sie mit Margits Vater, ihrem Bill, vereint. Wenn es einen Herrgott gibt, und ich bin sicher, dass es ihn gibt, dann wird er ihnen vergeben und sie werden im Himmel so glücklich werden, wie sie es auf Erden nie sein konnten.

Seit Rupert in Waldstetten ist, begreife ich mehr und mehr, was es heißt, jemanden zu lieben. Ich verstehe jetzt, was es für Mutter geheißen hat, ihren Bill zu verlieren, was aber nicht heißt, dass ich auch verstehe, warum sie sich danach nicht mehr um ihre Familie, ihre Ehe bemüht hat.

Sicher hat sie unter den Streitigkeiten zwischen Margit und Vater, auch zwischen Margit und mir, gelitten, dennoch hat sie nie verstanden, was sie Vater – aber auch mir – mit diesem Seitensprung angetan hat. Vielleicht wäre es für alle besser gewesen, mit dieser Situation offen umzugehen. Das hat sie strikt abgelehnt und wahrscheinlich hätte es Vater auch nicht gewollt. Er mag in einigen Punkten moderne Anschauungen haben, aber er ist auch ein tiefgläubiger Katholik, dem Anstand und Ehre viel bedeuten. Deshalb verschweige ich ihm mein Verhältnis zu Rupert –, auch wenn es mir schwerfällt.

Ich habe Margit geschrieben und bin gespannt, ob sie wenigstens zu Mutters Beerdigung kommt.

1970

Gestern ist Vater gestorben. Rupert und ich waren bei ihm. Nach der Krankensalbung hat er Rupert lange angesehen und dann noch gesagt: „Machen Sie mein Kind nicht unglücklich!“. Kurz darauf hat er die Augen für immer geschlossen. 

Die ganze Szene war für mich schwer zu ertragen, trotzdem war ich froh und dankbar, dass Rupert in dieser Stunde bei mir gewesen ist. Zumindest weiß ich jetzt, dass Vater auch in diesem Fall meine Entscheidung respektiert hat – und Rupert und ich wissen, dass unser Geheimnis nicht ganz so geheim zu sein scheint, wie wir dachten.

Ich werde Margit schreiben und hoffe, dass sie auch diesmal kommt. Zu Mutters Begräbnis ist sie hier gewesen, gemeinsam mit Eberhard, doch sie sind gleich im Anschluss an die Beerdigung wieder gefahren. Vater hat darüber kein Wort verloren, das zeigt mir, wie sehr es ihn gekränkt hat.

Auch wenn Margit und ich in der Zwischenzeit wissen, dass er nicht ihr biologischer Vater gewesen ist, so meine ich doch, sie wäre es ihm schuldig, wenigstens an seinem Begräbnis teilzunehmen.

Juni 1985

Endlich hat der Orden ein Einsehen gehabt und Waldstetten einen jungen Kaplan bekommen. Rupert ist sehr froh darüber und rechnet fest damit, dass er sich in zwei, drei Jahren zur Ruhe setzen kann. Ich wäre da nicht so sicher. Dieser Gottfried Gruber hat nicht nur Theologie, sondern auch noch Recht studiert. Wozu? Vermutlich nicht, um Pfarrer in Waldstetten zu werden.

Sommer 1989

Rupert hatte einen Herzinfarkt. Zum Glück war Doktor Schwarz rechtzeitig zur Stelle und alles ist gut gegangen. Jetzt ist er zur Kur in Bad Tatzmannsdorf. Nächstes Wochenende werde ich ihn besuchen. Kaplan Gruber macht sich als Vertretung richtig gut. Außerdem hat er sich in ein junges Mädel aus Stettenkirchen verliebt. Soll man ihm dazu gratulieren? Eher nicht. Mir kann es dennoch nur recht sein, so hat er einen guten Grund hierzubleiben, und Rupert kann – endlich! – in den wohlverdienten Ruhestand wechseln. Er hat sich mit dem Ordensprovinzial darauf geeinigt, als Alt-Pfarrer in Waldstetten zu bleiben. Auf diese Weise kann er Gruber immer noch ein wenig zur Hand gehen – und wäre in meiner Nähe. 

Oktober 1991

So ein Mist! Der Orden hat Kaplan Gruber strafversetzt, wegen seiner Beziehung zu dieser Rosalinde. Rupert hat versucht, im Orden für ihn einzutreten, doch leider ohne Erfolg. Die Konsequenzen hat der hochwürdige Herr Provinzial nicht bedacht – wie üblich. Nun sitzt Rupert wieder allein im Pfarrhaus. Sein Ersuchen um einen neuen Kaplan musste abgelehnt werden, sie haben schlicht und ergreifend keinen. Kein Wunder, die Lebensweise, die die Kirche ihren Priestern aufzwingt, ist ja auch gegen die Natur – und solange dieser Pole im Vatikan sitzt, ist mit keiner Änderung zu rechnen. Rupert ist siebzig. Mit seinen Vorerkrankungen sollte er längst in Pension sein. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn, auch wenn er mir versprochen hat, kürzerzutreten. Das wird er nicht, ich kenn ihn ja.

Sommer 2008

Drei Tage vor seinem 87. Geburtstag hat mein Rupert mich verlassen. Er war bis zuletzt zutiefst davon überzeugt, dass wir uns wiedersehen – in welcher Form auch immer. Ich hoffe und bete dafür, dennoch bin ich entsetzlich traurig. Aber ich bin auch dankbar. Gott allein weiß, wie armselig mein Leben ohne Rupert gewesen wäre.

Wenige Tage zuvor ist völlig überraschend Doktor Schwarz, unser Gemeindearzt, verstorben. Allerdings durfte der nur 63 Jahre alt werden. Seine Frau Annabell und ich trösten uns nun gegenseitig, so gut wir es vermögen.

Annabell hat Glück im Unglück. Ihre Tochter Liesl übernimmt die Praxis ihres Vaters. So bleibt Annabell wenigstens noch die Arbeit in der Ordination – und Liesl wird mit ihrer Tochter bei ihr einziehen, dann ist Annabell nicht ganz allein. Für Liesl wird es nicht ganz leicht werden, nicht nur, weil sie ein uneheliches Kind hat. Ihr Vater war sehr beliebt – und in Waldstetten gab es noch nie eine Ärztin. Manche überlegen angeblich schon, lieber nach Stettenkirchen zu fahren, dort ordiniert ein Mann.

Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diesem Blödsinn Einhalt zu gebieten. Zum Glück bin ich dazu noch in der Lage, und die Streitgespräche mit den Waldstettener Sturköpfen werden mich wenigstens kurzfristig von meinem Kummer ablenken.

Weihnachten 2015

Nun sind Agathe, meine treue Haushälterin, und ich schon seit Monaten in diesem Seniorenstift. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Abschied von Schloss Waldstetten überlebe – Liesl scheint doch recht gehabt zu haben. Sie besucht mich regelmäßig, hat nicht vergessen, dass ich damals ihre erste Patientin war, und meint, ich könnte noch hundert werden. Ob ich mir das wünschen soll?

Obwohl wir hier bestens versorgt werden, betüdelt Agathe mich immer noch – dabei hat sie sich ihren Ruhestand redlich verdient, sie wird heuer achtzig. Durch den Verkauf der Fischteiche, der letzten Äcker, die bisher verpachtet waren, und der noch vorhandenen Möbel, ist es mir immerhin gelungen, für Agathes Verbleib in diesem Heim, auch über meinen Tod hinaus, zu sorgen.

Dafür bekommt Gloria nun ein leeres Schloss. Ohne Grundbesitz wird es ihr schwerfallen, es zu erhalten. Da sie von ihrem „Glück“ erst nach meinem Tod erfahren wird, muss ich mit den Konsequenzen nicht mehr leben. Dort wo ich eines Tages noch hingehe, sind Schlösser ohne Belang.

Gloria wischte sich eine Träne aus dem Auge und klappte das Buch zu.

Vielleicht wusste Tante Adelheid ja mittlerweile, dass sie das Schloss – wenn auch nur teilweise – behalten konnte. Ihre Tante hatte ja fest an ein Weiterleben geglaubt. Sie selbst war da nicht ganz so sicher, doch in diesem Moment hoffte Gloria, Adelheid hätte recht.

Dann sah sie auf die Uhr. Schon sieben. Gleich würde Daniel kommen …

Gloria konnte den Satz nicht zu Ende denken. Schon ging die Türe auf. Es war Daniel.

„Was gibt’s denn heute zum Abendessen?“, fragte er.