Bonusgeschichte Weihnachten

„Millionärin wider Willen – Elenas Haus“

Wer das Buch gelesen hat, der erinnert sich vielleicht noch, dass Elenas Nachfolger und späterer Schwiegersohn Klaus der Sohn eines Priesters ist. Zur Erinnerung ein kurzer Ausschnitt aus dem Buch. An einem Sonntagnachmittag erzählte Klaus seine Geschichte.

„Mein Vater ist Priester, genau genommen hat er es sogar bis zum Abt gebracht, aber das wusste ich lange Zeit nicht. Meine Mutter stammte bekanntlich aus der Toskana. Sie hat mir immer nur erzählt, sie hätte ihn kennengelernt, als er Urlaub machte. Heute würde man sagen, ich wäre das Ergebnis eines One-Night-Stands. Fakt ist, nachdem meine Mutter bemerkt hat, dass sie schwanger war, hat sie Hals über Kopf ihre Heimat und ihr Elternhaus verlassen und ist zuerst nach München gegangen. Warum, das habe ich nie hinterfragt. Erst von meinem Vater habe ich erfahren, dass er dort in einem Kloster gelebt hat. Als er später hierher versetzt wurde, hat er ihr eine Anstellung als Lehrerin für Italienisch verschafft – praktischerweise an der Klosterschule, an der auch er unterrichtet hat. Aber die Sache ist wohl aufgeflogen, denn einige Jahre später wurde mein Vater neuerlich versetzt. Ich ging schon zur Schule, also sind wir geblieben. … Jedenfalls hat meine Mutter mir erst kurz vor ihrem Tod gestanden, wer mein Vater ist.“

„Dann hast du deinen Vater erst vor wenigen Jahren kennengelernt?“, fragte Ossi erstaunt.

„Nein, nein, ich kannte ihn schon. Er ging ja bei uns lange Jahre aus und ein, als ich noch klein war. Ich mochte ihn damals sogar, ich wusste nur nicht, dass er mein Vater war. Meine Mutter hat später auch noch einmal geheiratet.“

„Und wie war das Verhältnis zu deinem Stiefvater?“, wollte Kerstin wissen. …

„Anfangs sehr gut. Ich war froh, endlich auch eine richtige Familie zu haben. Außerdem war er Pilot, das fand ich sehr aufregend. Als ich in die Pubertät kam, wurde unser Verhältnis allerdings zunehmend problematisch. … Jedenfalls hat er mein Studium finanziert. Kaum hatten wir uns wieder ein wenig angenähert, ist er bei einem Hubschrauberflug tödlich verunglückt. Leider.“

„Und wie ist das Verhältnis zu deinem richtigen Vater?“, fragte Ossi.

Klaus überlegte. „Was heißt schon richtig, was falsch? In meinem Fall war ich meinem biologischen Vater nie so nah wie meinem Stiefvater, denn er war mit mir Skifahren, hat mir Tennis beigebracht und war mit mir auf dem Fußballplatz.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Erst war ich wütend auf meinen biologischen Vater, weil er sich nie zu mir bekannt hat. In der Zwischenzeit habe ich eingesehen, dass er unter dieser Situation vermutlich mehr gelitten hat als ich. Heute leben wir in einer Art friedlicher Koexistenz. … Er hat sich vor einigen Jahren in ein Kloster im Allgäu zurückgezogen.“

Anlässlich der Hochzeit von Kerstin und Klaus erzählt nun sein Vater seine Geschichte:

„Wenn ich heute zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass meine Kindheit nur aus Ostern, Weihnachten und den großen Ferien bestand. Das war die Zeit, die meine Mutter und ich bei „Onkel Ludwig“ im Pfarrhof verbrachten. Onkel Ludwig war – angeblich – der Bruder meines verstorbenen Vaters und Pfarrer in Himmelreichstetten.

Landpfarrer zu sein hatte damals allerlei Vorteile. Der wichtigste schien mir, dass es immer gut und ausreichend zu essen gab, das war während und nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit. Ich erinnere mich an deftige Eintöpfe mit herrlichen Würsten, köstliche Grießschmarren mit viel Zucker und sonntägliche Braten. Aber nicht nur das gute Essen machte den Aufenthalt zu einem Erlebnis. Onkel Ludwig war stets guter Laune, was sich auch auf meine Mutter zu übertragen schien. Er war allseits geachtet, was uns ebenfalls zugutekam, und seine prächtigen Messgewänder imponierten mir gewaltig. Wenn mich jemand fragte, was ich denn einmal werden wollte, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen: Pfarrer, wie Onkel Ludwig.

Den Rest des Jahres verbrachten wir in der Stadt. Unser Leben dort war düster und entbehrungsreich. Das meiste habe ich erfolgreich verdrängt – im Verdrängen bin ich ja bekanntlich Weltmeister. Dennoch erinnere ich mich an die aus Küche, Wohnzimmer und einem winzigen Schlafraum bestehende Hinterhof-Wohnung, in der ewig das Licht brannte, weil sich nur selten ein Sonnenstrahl zu uns verirrte, an Kümmelsuppe, Kümmelkartoffel und Kohl. Das Einzige, was meine Mutter scheinbar ausreichend zur Verfügung hatte, war Kümmel. Kümmel war bei uns omnipräsent, ob im Kohl, der Einbrennsuppe oder den Kartoffeln.

Heute frage ich mich, ob die Himmelreichstettner wohl auch so naiv waren wie ich? Ich habe lange Zeit geglaubt, dass Onkel Ludwig mein Onkel sei. Wann genau bei mir der Groschen fiel, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich daran, dass ich danach immer noch so tat, als wäre ich Ludwigs Neffe. Ein Sohn schickte sich schließlich nicht für einen Landpfarrer.

Doch auch die späte Erkenntnis änderte nichts an meinem Berufswunsch; ich wollte Priester werden, und ich wurde Priester, obwohl „Onkel“ Ludwig mir davon abriet. Erst verstand ich nicht so recht warum, und als ich es endlich verstand, weil ich zum ersten Mal im Leben so richtig verliebt war, war ich bereits mit dem Studium fertig. Doch dann begann das Zweite Vatikanische Konzil, für die katholische Kirche eine Zeit des Aufbruchs. Diese Aufbruchsstimmung erfasste uns alle, wir hielten vieles für möglich.

Anders als mein Vater wollte ich nun nicht mehr Landpfarrer werden, in der Zwischenzeit gab es ja überall ausreichend zu essen. Mich zog es nach Rom – ins Zentrum der Macht. Vorerst kam ich jedoch nach München, in ein Kloster. In der angeschlossenen Schule unterrichtete ich Religion und mein Zweitfach Italienisch. Mein fließend gesprochenes Italienisch war es auch, das mich zu deiner Mutter, Angela, führte.“

Es war mucksmäuschenstill geworden im Saal. Er warf einen Blick zu Klaus, trank einen Schluck, dann fuhr er fort: „Das war 1974. Ich war in den Sommerferien mit einer Jugendgruppe in Italien und dolmetschte für alle. Angela hatte ihr Lehramtsstudium abgeschlossen und war mit einigen Freundinnen unterwegs.

Angela – mein Engel. Ich verliebte mich sofort in sie. Wir bedauerten es beide sehr, dass unser Urlaub so kurz war. Dennoch war es keine Frage für mich, nach München zurückzukehren.

Anfang Dezember stand sie dann vor meiner Tür. Sie war schwanger und hat Hals über Kopf ihr Elternhaus verlassen. Ich brachte sie bei Freunden unter.

Alles würde gut werden – alles musste gut werden. Wir mussten uns nur eine gute Geschichte ausdenken. Nichts war in dieser Situation für mich natürlicher als zu lügen – schließlich war ich mit einer Lüge groß geworden. Wir würden es schaffen, so wie meine Mutter und Onkel Ludwig es geschafft hatten. Mutter lebte zu dieser Zeit als Haushälterin bei Ludwig. In der Zwischenzeit war auch den Himmelreichstettnern ein Licht aufgegangen, aber sowohl Ludwig als auch meine Mutter waren in der Gemeinde wohlgelitten – Mutter packte überall mit an, half immer gerne aus – niemand regte sich auf.

Eine Zeitlang klappte es auch bei uns. Angela war Lehrerin. Es war mir ein Leichtes, ihr eine Stelle in unserer Klosterschule zu verschaffen. Der Abt war sehr verständnisvoll. Wir mussten uns nur dazu verpflichten, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Leider starb der gute Mann kurz darauf. Ich wurde versetzt, doch noch einmal gelang es mir, Angela nachzuholen. Noch einmal ging unsere Lügerei für ein paar Jahre gut. Ich konnte meinem Beruf nachgehen, Angela treffen und meinen Sohn aufwachsen sehen.

Doch als Karol Wojtyla Papst wurde, war die Zeit der Reformen vorbei, auch unser Kloster bekam einen neuen Abt, einen, der nicht das geringste Verständnis für uns hatte. Angela oder ich – einer von uns musste gehen.

Ich ging, schweren Herzens, und ich ging nach Rom. Wenn ich schon meine Familie verlassen musste, dann wollte ich wenigstens meine Karriere vorantreiben, vielleicht konnte ich ja in Rom etwas bewirken. Das dachte ich damals wirklich, denn ich hielt Rom immer noch für das Zentrum der Macht. Zumindest hatte die Diözese mir dort eine Stellung verschafft, man dachte wohl es sei für alle Beteiligten das Beste, wenn ich weit weg war.

Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, was ich dabei aufgegeben habe, und dass Rom zwar in einer gewissen Weise das Zentrum der Macht, aber auch das Zentrum der Intrige und der Ohnmacht ist. Nach drei Jahren hatte ich genug und kehrte zurück. Ich wusste, dass Angela in der Zwischenzeit geheiratet hat, aber ich begriff wieder einmal nichts. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie den anderen wirklich liebte, und wollte unsere Beziehung einfach fortsetzen. Schließlich war verheiratet zu sein die perfekteste Tarnung die es geben konnte.

Angela hielt das für keine gute Idee. Sie sagte mir, sie hätte den anderen zwar nur geheiratet, um unserem Sohn Sicherheit, eine Familie und eine angemessene Ausbildung bieten zu können, doch sie würde seine Anständigkeit nicht mit Treuebruch vergelten.

Das konnte ich noch verstehen, aber dass ich Klaus nicht mehr sehen sollte, konnte ich beim besten Willen nicht akzeptieren. Aber Angela bestand darauf und meinte, es sei besser so.

Wir stritten uns furchtbar, und ich habe sie seitdem nie wieder gesehen.

Anfangs schrieb sie mir noch Briefe und schickte ein paar Fotos, ich antwortete aber nie und erfuhr erst nach ihrem Tod, dass ihr Mann schon Jahre zuvor verunglückt war. Das tat mir sehr leid. Hätte ich davon gewusst, wäre ich doch für sie da gewesen.

Nun bin ich selber alt. Immerhin durfte ich vor wenigen Jahren meinen Sohn wiedersehen. Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Er ist Arzt geworden, ein ganz tüchtiger, wie ich höre, und er wird nun zum zweiten Mal heiraten. Ob das richtig oder falsch ist, wage ich heute nicht mehr zu beurteilen, aber ich freue mich aus ganzem Herzen, dabei zu sein. Ich werde den beiden meinen Segen geben, in dem Wissen, dass der Gott, an den ich glaube, den seinen nicht verwehren wird. Immerhin steht Klaus zu seiner Liebe – das hat er seinen Altvorderen voraus.“