Leseprobe-Millionärin wider Willen: Elenas Geheimnis

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Elena – Immer diese Radfahrer

Seit wenigen Tagen war Elena im sogenannten Ruhestand. Wasfür ein dummes Wort, sie hatte sich selten unruhiger gefühlt.
Wehmütig schlenderte sie durch ihre ehemaligen Praxisräume.Achtundzwanzig Jahre hatte sie hier als Allgemeinmedizinerin
gearbeitet, es war ihr zweites Zuhause gewesen. Bald würde ein anderer Arzt hier praktizieren, während sie ihre Pension
genießen sollte. Was für ein seltsames Gefühl. Es war wie damals, in ihrer Kindheit, wenn sich zu Beginn der großen
Ferien alle wie verrückt über die schulfreie Zeit gefreut hatten – nur sie hatte nicht recht gewusst, was sie damit anfangen sollte.

3

Sie war gern zur Schule gegangen, hatte voller Eifer studiert und später viel und gern gearbeitet. Zu viel, wie
ihre Kinder nun sagten.Ihr Sohn Axel meinte, sie hätte es versäumt, zu leben.
Blödsinn. Die Medizin, ihre Patienten, die Praxis, das war ihr Leben. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können, ihre
Praxis dicht zu machen? Gut, sie hatte gesundheitliche Probleme gehabt, aber jetzt war sie doch wieder fit.
Kerstin, ihre Tochter, hatte vorgeschlagen, sie solle verreisen. Mitkommen wollte sie allerdings nicht. Das wäre
im Augenblick ganz unmöglich, wo sie doch so knapp davorstand, endlich als Partnerin in die Anwaltskanzlei einsteigen zu können,
für die sie seit Jahren tätig war.Darauf wartete sie ungeduldig, dafür arbeitete sie Tag und Nacht.
Im Grunde waren sie einander ziemlich ähnlich – deshalb hatte es zwischen ihnen auch nie so besonders gut geklappt.
Verreisen? Blöde Idee. Sie war noch nie gern gereist, schon gar nicht allein. Bestenfalls würde sie ein paar Tage in ein
Thermenhotel fahren. Ein wenig Wellness und etwas Bewegung in frischer Luft konnten schließlich nicht schaden – das
hatte sie ihren Patienten auch immer gesagt. Aber selbst dafür hätte sie lieber Begleitung gehabt. Mal sehen, was
sich so ergab. Es hatte ja keine Eile. Sie kontrollierte noch einmal ihre Schreibtischladen und
sämtliche Schränke. Alles leer. Ihre Praxishilfe und ihre Schwiegertochter Maren hatten ganze Arbeit geleistet,
während sie sich im Kurheim wie verrückt abgestrampelt hatte, um ihr Herz wieder in Schwung zu bringen.
Als sie endlich zurück war, hatte sie gerade noch verhindern können, dass die beiden ihrem Nachfolger auch noch die Küche
leer geräumt hatten. Also wirklich.

4

Die paar Kaffeetassenund Wassergläser wollte sie ihm doch gern überlassen, wo er so ein sympathischer junger Mann war. Außerdem war sie
heilfroh, überhaupt einen Nachfolger gefunden zu haben. Das war in letzter Zeit nicht selbstverständlich, speziell hier,
am Stadtrand. Wirklich schade, dass er so jung war; dieser schwarzhaarige Klaus Fritsch wäre genau ihr Typ. Engagiert,
kompetent, freundlich, sehr männlich – und eine Spur geheimnisvoll.Sie hatte ihm angeboten, ihn in den ersten Tagen zu unterstützen.
Es war schließlich nicht ganz einfach, eine eingeführte Praxis, die seit Jahrzehnten gut lief, zu übernehmen.
Er hatte das dankbar angenommen. Wer weiß, wenn sie sich gut verstanden, konnte sie vielleicht die eine oder andere
Urlaubsvertretung übernehmen. Sie hatte sich jedenfalls vorgenommen, sich vornehm zurückzuhalten, auch wenn das
nicht einfach werden würde – schließlich war es jetzt seine Praxis.
Bis zur Eröffnung würde es allerdings noch einige Wochen dauern, morgen sollten erst einmal die Handwerker kommen, um
die Praxisräume etwas zu modernisieren.Das hatte sie damals doch auch gemacht, als sie die Praxisvon ihrem Vater übernommen hatte
und noch jung und voller Pläne war. Manches hatte sie umsetzen können, manches auch nicht, wie das Leben eben so war.
Sie überzeugte sich noch einmal davon, dass absolut nichts mehr zu tun war, schloss die Fenster und warf gewohnheitsmäßig einen Blick
in den Spiegel. Sie musste dringend zum Friseur. Das sonst so glänzend brünette Haar zeigte eine traurige Tendenz in Richtung Mausgrau. Sie zog
den Lippenstift nach, fuhr mit der Bürste durchs Haar und verließ die Praxis mit einem tiefen Seufzer.Was jetzt?

5

Sie hatte nur eine sehr vage Vorstellung davon, was sie tun sollte – heute, morgen und an allen anderen Tagen, die ihr
noch zur Verfügung standen. Zwanzig, dreißig Jahre könnten es schon noch werden, hatte ihr Kardiologe gemeint,
vorausgesetzt, dass sie vernünftig war und auf sich aufpasste.Aber was hieß schon vernünftig sein?
„Sie dürfen sich nicht gleich wieder überfordern“, hatte der Kollege aus dem Kurheim gesagt. Schon klar. Aber nichts zu
tun war auch keine Lösung. Was um Himmels Willen sollte sie mit all der Zeit nur anfangen? Sie straffte die Schultern.
Das würde sich finden. Sie sollte wirklich froh sein, dass sie wieder so fit war.Fürs Erste wäre Einkaufen keine schlechte Idee.
Kochen wäre auch eine Möglichkeit. Seit sie allein lebte, hatte sie nur selten gekocht, sich meist mit Kleinigkeiten begnügt:
Würstel, Eier, ein Käsebrot, dazu etwas Obst und ein wenig Gemüse. Insgesamt nicht ganz das, was sie ihren Patienten empfohlen hatte.