Leseprobe Familien 2.0 Band 4

  1. Allerheiligen 2016

Selbstverständlich können wir Sie auch gerne vom Flughafen Schwechat abholen, hatte Christine Polvani in ihrer vorletzten Mail an Rainer Breininger geschrieben.
Sah nicht aus, als hätte sie damit gerechnet, dass er ihr Anerbieten dankend annehmen würde, dachte Rainer jetzt, während er neben ihr im Auto saß. Er hätte es besser wissen müssen, schließlich war er ein geborener Wiener. Die sagten solche Dinge eher höflichkeitshalber, als dass sie damit rechneten, jemand würde davon Gebrauch machen.
Anyway. Immerhin war er Kunde des Architekturbüros Beranek, in dem sie arbeitete, und der neue Mieter der Dachgeschosswohnung ihres Chefs war er auch. Außerdem hatte er Beranek gegenüber anklingen lassen, dass er – als neuer Chef der Warholz AG – Änderungen plante, die eine weitere Zusammenarbeit möglich erscheinen ließen.
Erst war Frau Polvani zu spät gekommen, dann hätte sie ohne seine Hilfe kaum noch in das Parkhaus gefunden, in dem sie kurz zuvor ihr Auto abgestellt hatte. Zum Glück kannte er sich ganz gut aus. Nun hätte sie um ein Haar die falsche Ausfahrt genommen.
„Sorry, mein Orientierungssinn ist leider nicht der beste“, murmelte sie, während sie sich in den Fließverkehr einfädelte und hinzusetzte: „Um ehrlich zu sein, habe ich auch schon länger niemanden vom Flughafen abgeholt. Ursprünglich wollte der Chef Sie persönlich abholen, aber ausgerechnet heute ist er auf einem Seminar.“
„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände bereitet habe“, erwiderte Rainer ohne echtes Bedauern. Im Grunde hielt er es für selbstverständlich, dass man ihn abholte.

Sie lächelte. „Kein Problem.“

Already strange, dachte Rainer. In den Telefonaten, die er bisher mit Christine Polvani geführt hatte, war sie ihm stets clever und kompetent erschienen. Doch heute dürfte sie etwas überfordert sein.
Um die Atmosphäre aufzulockern, verwickelte er sie in ein zweifelsohne hochinteressantes Gespräch über das Wetter. Sie kamen überein, dass es grauslich war. So war das Einvernehmen wiederhergestellt.

***

Als Rainer und Christine endlich im Architekturbüro Beranek ankamen, wurden sie bereits erwartet.
„Darf ich vorstellen, Frau Baumann, unsere Innenarchitektin. Herr Doktor Breininger“, übernahm Frau Polvani die Vorstellung.
Sein Vater hatte ihm Katrin Baumann ebenso empfohlen wie Architekt Beranek. Jedenfalls sah die Dame gut aus. Trotz des Regenwetters könnte man annehmen, sie wäre eben einem Modejournal entstiegen. Kein feuchtes Haar, keine Schmutzspritzer auf den eleganten Schuhen.

Breininger reichte ihr die Hand. „Wenn der Titel vor meinem Namen genannt wird, weiß ich, dass ich wieder daheim bin“, lächelte er. Katrin Baumann schüttelte ihm die Hand.  und erwiderte sein Lächeln, ehe sie fragte: „Kommt Gernot denn nicht?“

„Wir treffen ihn später in der Alten Post“, informierte Frau Polvani in einem Ton, der Rainer ahnen ließ, dass die beiden nicht die allerbesten Freundinnen waren. Denn als sie ihn fragte „Wollen wir uns gleich Ihre Wohnung ansehen, oder möchten Sie erst noch eine Tasse Kaffee?“, war ihr Ton deutlich freundlicher.

„Ein Glas Wasser wäre schön.“
Sie versorgte ihn mit Wasser, dann schnappte sie sich die Schlüssel der Dachgeschosswohnung und ging voraus. Hier wirkte sie wieder kompetent und sicher, ganz so, wie er sie kennengelernt hatte.
Die Wohnung war fixfertig und so weit eingerichtet, dass er bereits heute darin übernachten konnte. Für die weitere Einrichtung sollte nun Katrin Baumann sorgen.

***

Zwei Stunden später saßen sie in der Alten Post, vor Kurzem war Architekt Beranek zu ihnen gestoßen.

„War’s interessant?“, wollte Katrin von ihm wissen.
„So interessant wie Baurecht eben sein kann. Das Beste waren – wie meist – die Pausengespräche.“
Dann wandte er sich Rainer zu. „Ich hoffe, es ist alles so, wie Sie es sich vorgestellt haben.“
„Danke, die Fotos, die sie mir gemailt haben, waren sehr aussagekräftig. Es gab also keinerlei Überraschungen. Nur stehe ich jetzt vor dem Problem, dass ich mir Möbel aussuchen muss, die nicht nur in Ihre Wohnung, sondern vor allem in mein Haus passen sollen.“

„Verlassen Sie sich dabei ganz auf mich“, flötete Katrin Baumann.
„Mit Vergnügen“, antwortete er galant, doch seine Aufmerksamkeit galt augenblicklich einer anderen, denn soeben kam Frau Doktor Wiedermann in Begleitung eines Paares. Er hatte sie bei seinem letzten Besuch in Bad Brunn kennengelernt und sich gewünscht, sie bald wieder zu treffen. Dass es ganz so schnell gehen würde, hatte er nicht zu hoffen gewagt. Zum Glück winkte Christine Polvani den Neuankömmlingen zu. Die drei kamen an ihren Tisch.
„Schon im Lande?“, erkundigte sich der Mann und schüttelte Rainer die Hand.
„Frisch aus den Staaten importiert“, antwortete der, ohne genau zu wissen, wen er hier begrüßte.
„Nutzt ihr den freien Abend?“, fragte Frau Polvani.
„Andersrum“ antwortete der Mann. „Sarah und Lea passen auf Alex auf, weil wir uns hier mit Franziska und meinem Freund Tim treffen. Franziska wird nämlich unsere Weddingplanerin, Tim wird das Catering machen.“
„Ich habe schon gehört, ihr wollt in den heiligen Stand der Ehe treten. Gratuliere!“, meinte Christine.
Nun wusste Rainer auch wieder, wer die beiden waren. Udo Regner und seine Lebensgefährtin Barbara. Sie bewohnten eines der Doppelhäuser neben der Villa, in der Franziska Wiedermann das Erdgeschoss gemietet hatte.
Rainer wandte sich ihr zu. „Weddingplanerin? Was für ein interessanter Nebenjob für eine Ärztin“, sagte er nicht ganz ohne Ironie.

„Man sollte stets auf mehreren Beinen stehen“, antwortete Franziska Wiedermann schmunzelnd. „Obwohl ich ehrlicherweise nicht genau sagen kann, welche Talente mich zu diesem Nebenjob befähigen sollten.“

***

Wenn Franziska sich nicht sehr täuschte, verdankte sie ihre Berufung zur Weddingplanerin Udos Freund Tim. Zumindest wüsste sie nicht, was sie sonst dazu befähigen sollte.

Sie kannte Tim schon fast so lange wie Udo, die beiden hatten ein paar Semester mitsammen studiert. Tim hatte allerdings bald eingesehen, dass das Wirtschaftsstudium nicht das Passende für ihn war, und mit seiner damaligen Freundin, einer gelernten Köchin, eine Cateringfirma gegründet. Die Beziehung war in die Brüche gegangen, das Cateringunternehmen hatte die Trennung überlebt und gedieh unter Tims Führung prächtig.
Tim konnte mühelos Menschen bezaubern, ob es sich nun um Auftraggeberinnen oder Personal handelte. Wobei – angeblich – so manche Dame seinem Charme erlag. Udos Ex-Frau Monika behauptete, Tim sammle Liebesabenteuer wie andere Leute Briefmarken.
Franziska hielt das für übertrieben, fand aber, Tim gehöre zu jenen Hähnen, die glaubten, dass die Sonne ihretwegen aufging – jedoch auf eine sympathische Art.
Jedenfalls ließ er neuerdings keine Gelegenheit aus, auch sie von seinem Charme zu überzeugen. Das war einerseits ganz amüsant, andererseits aber sinnlos.
Obwohl ihr Leben in letzter Zeit in ziemlich eingefahrenen Bahnen verlief – zwischen Ordination und neuer Wohnung im Erdgeschoss der Villa Waldesruh, in der sie allerdings immer öfter allein saß. Wenn Sohn Flori nicht in der Schule, bei einem Freund oder mit Sarah und Lea unterwegs war, dann zoomte er oder hatte Stöpseln in den Ohren.
Sie war von Familie umgeben, alles nette Menschen, keine Frage, dennoch hatte sie sich selten einsamer gefühlt.