Leseprobe-Mütter, Töchter und andere Krisen 2013 – 2015

  1. Annette

Als Annette in die Waldstraße einbog und die Abendsonne ihr Haus in ein goldenes Licht tauchte, empfand sie für einen Moment ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit.

Doch dann fiel ihr ein, dass es mit der Ruhe bald vorbei sein würde.

Auf Knopfdruck öffnete sich summend das Garagentor. Sie wollte schon losfahren, als sie gerade noch rechtzeitig bemerkte, dass die Garage mit Möbelstücken vollgeräumt war. Seufzend parkte sie ihren Wagen auf der Straße.

Das fing ja gut an.

Tochter Monika, die in der Küche seelenruhig Gemüse schnipselte, begrüßte sie mit den Worten: „Hallo, hab’ ganz vergessen, dir zu sagen, dass du nicht in die Garage fahren kannst.“

„Und wann wird das Möbellager dort wieder geräumt?“

„Das stört doch nicht“, antwortete Monika unbekümmert und gab die gehackten Zwiebeln ins heiße Fett.

„Mich schon“, brummte Annette und verzog sich in das obere Stockwerk, das auch in Zukunft ihr alleiniges Reich bleiben sollte.

Als sie wenig später frisch geduscht und mit einem Glas Sherry in der Hand in die Wohnküche kam, war der gemütliche Ecktisch in der Veranda bereits gedeckt, ihre Enkelin Sarah hüpfte ihr fröhlich entgegen und es duftete nach allen möglichen Gewürzen. Annette setzte sich auf die gepolsterte Eckbank, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und nippte genüsslich an ihrem Sherry.

„Was gibt’s denn Gutes?“

„Krautsuppe“, antwortete Monika.

„Krautsuppe?“, wiederholte Annette mit mehr Erstaunen als Begeisterung. „Mit Wurst?“

Monika schüttelte den Kopf. „Hast du schon einmal gelesen, welche Inhaltsstoffe in so einer Wurst stecken?“

„Kaum. Ich esse gelegentlich ein Würstel, aber wenn ich etwas lesen möchte, nehme ich mir ein Buch.“ Monikas Miene verdüsterte sich, deshalb setzte Annette versöhnlich hinzu: „Also gut, Krautsuppe. Und was dazu?“

„Wenn du möchtest, kann ich noch etwas Knoblauchbrot machen.“

„Knoblauchbrot wäre wunderbar“, antwortete Annette ohne große Überzeugung und zündete sich eine Zigarette an. Während sie beobachtete, wie ihre Tochter mit geübter Hand Knoblauchbutter zubereitete, dachte sie, dass die Idee

mit der gemeinsamen Küche vielleicht doch keine so gute war. Monika hatte immer Wert auf gesunde Ernährung gelegt, doch seit sie mit Georgine, der Apothekerin, befreundet war und sich deren Damenrunde angeschlossen hatte, fand Annette ihre Ansichten eher enervierend als gesund.

Gleich morgen würde sie den Tischler anrufen und sich eine eigene Küche einrichten lassen.

Das Knoblauchbrot verbreitete einen verführerischen Duft, und als sie sich zu Tisch setzten, musste Annette zugeben, dass die Suppe ebenso köstlich schmeckte, wie sie schon zuvor geduftet hatte.

Das Abendessen verlief friedlich, doch während Monika den Suppentopf abservierte, hielt ein Wagen vor dem Haus. „Papi!“, rief Sarah und stürmte davon.

Monikas Begeisterung hielt sich in Grenzen.

„Was macht denn Udo hier? Wir sind doch nicht ausgezogen, damit er uns jetzt hier belästi…“

„Besucht – wolltest du hoffentlich sagen“, fiel Annette ihr ins Wort und ging ihrem Schwiegersohn entgegen, der – mit einem Blumenstrauß bewaffnet – die Wohnküche betrat.

Er küsste erst Annette pflichtschuldig auf die Wange, wandte sich dann Monika zu, hielt ihr einen ebenso großen wie geschmackvollen Blumenstrauß aus weißem Flieder und Rosen entgegen und sagte lächelnd: „Ich wollte nachschauen, wie es der neuen Damen-WG nach einem harten Umzugstag geht.“

Monika taxierte den Strauß skeptisch. „Beides hättest du dir sparen können – vor allem aber diese rote Rose.“

Udo betrachtete den Strauß, als sähe er ihn zum ersten Mal, und zog die rote Rose, die in der Mitte steckte, heraus. „Ach, entschuldige, die ist natürlich für meine Schwiegermama.“ Er überreichte die Blume Annette mit einer leichten Verbeugung.

„War klar“, lachte Annette, die sich Udos Charme nie ganz entziehen konnte, und ging kopfschüttelnd davon, um zwei Vasen zu holen.

Als sie zurückkam, hatte Sarah ihren Vater bereits ins Wohnzimmer geschleppt, wobei die Bezeichnung Zimmer für den mehr als sechzig Quadratmeter großen Raum eigentlich eine Untertreibung war. Annette ließ sich in die edle Garnitur aus cognacfarbenem Leder sinken und fragte Udo, ob er vielleicht etwas Krautsuppe wollte.

„Ich habe leider schon gegessen“, zwinkerte Udo ihr verschwörerisch zu. „Aber ein Glas Wein wäre fantastisch.“

„Gute Idee, da trinke ich auch eines mit.“ Sie holte zwei Gläser aus dem Schrank und ging in Richtung Küche.

„Das alkoholische Zeug habe ich in den Keller getragen“, rief Monika ihr nach.

Annette machte auf dem Absatz kehrt. „Dann solltest du das alkoholische Zeug schnell wieder aus dem Keller holen. Ich hatte Gelben Muskateller eingekühlt, den hätte ich gerne.“

Monika funkelte ihre Mutter böse an und Sarah rief eilig: „Ich hole ihn. Darf ich mir eine Cola mitnehmen?“

„Klar“, antwortete Annette, ohne nachzudenken, und erntete dafür einen Kuss von Sarah und einen ärgerlichen Blick von Monika.

„Du weißt, dass Sarah dieses künstliche Zeug nicht trinken soll, also bitte, halte dich daran!“

„Reg dich nicht auf. Du hast als Kind auch gelegentlich Cola getrunken und ich kann nicht erkennen, dass es dir nachhaltig geschadet hat.“

Monika war wütend. Annette erkannte das an dem Funkeln ihrer Augen. Und wie immer, wenn Monika wütend war, holte sie zum Rundumschlag aus.

„Damit das ein für alle Mal klar ist, Sarah ist meine Tochter und ich will nicht, dass sie Cola trinkt, ich will nicht, dass du in ihrer Gegenwart rauchst und Alkohol trinkst, und schon gar nicht will ich“, dabei wandte sie sich an Udo, „dass du hier herumhängst. Dafür bin ich nämlich nicht ausgezogen!“

Sie eilte zur Tür, machte aber noch einmal halt, kam zurück und zischte Udo an: „Wenn du schon hier auftauchst und mir ebenso sinnlose wie sündteure Blumensträuße bringst, solltest du vielleicht daran denken, dass auch du eine Tochter hast.“

Langsam wurde auch Udo ärgerlich. „Was du nicht sagst. Wenn ich Sarah Süßigkeiten bringe, geht das Theater ja erst richtig los!“

„Vielleicht könntest du einmal darüber nachdenken, ihr etwas anderes zu schenken als ungesunde Süßigkeiten“, fauchte Monika.

„Was denn?“, fauchte Udo zurück. „Soll ich ihr rote Rüben bringen oder vielleicht eine Ingwerwurzel?“

„Du bist und bleibst eingebildet und selbstgerecht!“

Mit dieser nicht ganz schlüssigen Antwort verließ Monika endgültig das Wohnzimmer und die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihr ins Schloss.

Im nächsten Moment erschien Sarah und fragte: „Ist Mama jetzt böse?“

„Nicht deinetwegen, Prinzessin“, antwortete Udo.

„Klar meinetwegen, ich darf doch keine Cola trinken.“

„Na ja, nicht täglich“, schaltete Annette sich ein. „Aber heute ist doch ein besonderer Tag. Also geh und hol dir ein Glas, wir wollen auf euren Einzug anstoßen.“

Das taten sie dann auch, aber die Stimmung war gedrückt, und die Cola schmeckte bestimmt ebenso schal wie der kühle Wein. Udo verabschiedete sich auch bald, steckte Sarah noch einen Zehn-Euro-Schein zu, küsste sie auf die Nasenspitze und versprach, sich bald wieder zu melden.

Sarah ließ den Geldschein blitzartig in ihrem Shirt verschwinden.

Annette lächelte. Sie wusste, dass Sarah sich von derartigen Zuwendungen Süßigkeiten und all die Dinge kaufte, die Monika ihr nicht erlaubte.

Annette hielt wenig davon, alles zu verbieten. Vielleicht legte Monika gerade deswegen so viel Wert darauf, schließlich waren sie ganz selten einer Meinung. Eigentlich nie.

Annette schickte Sarah ins Bad und ging in die Küche. Während sie die Gläser in den Geschirrspüler räumte, dachte sie daran, was für ein eigenständiges Persönchen Sarah mit ihren zehn Jahren schon war. Sicher würde sie Monika noch viel Freude bereiten.