Leseprobe Zwischen Tafelspitz und Ministerrat

1. Abschied von Doktor Winter

Als Sybille schlaftrunken die Jalousien hochzog, war es draußen dunkel und nebelig. Gähnend machte sie sich auf den Weg in das Zimmer ihrer Tochter Kerstin. Die wollte nicht aus den Federn und knurrte unwillig. Das hätte Sybille ja noch verstehen können, aber dass Kerstin das Bad ewig blockierte, zerrte schon an ihren Nerven, und als Kerstin beim Frühstück in diesem ganz besonderen Tonfall, der ihr neuerdings zu gefallen schien, sagte: „Wie siehst du denn aus?“, war das Maß voll.
Dennoch atmete Sybille erst tief durch, ehe sie, schon etwas weniger gereizt, antwortete: „Schwarz und traurig? Genauso fühle ich mich, heute ist immerhin das Begräbnis von Doktor Winter.“
„Okay, aber du bist nur seine Kabinettschefin, nicht seine Witwe“, antwortete Kerstin, trank ihren Orangensaft, schnappte sich einen Apfel und ging.
„Kerstin, du sollst doch nicht …“, den Rest konnte sie sich sparen, die Tür war bereits hinter Kerstin ins Schloss gefallen.
Lustlos aß Sybille ein paar Löffel von ihrem Müsli, ehe sie die restlichen Lebensmittel im Kühlschrank verstaute. Dann ging sie ins Schlafzimmer und betrachtete eingehend ihr Spiegelbild. Vielleicht hatte Kerstin ja recht, die schwarze Bluse, zusammen mit dem schwarzen Kostüm und ihrem dunklen Haar, war doch etwas zu viel. Sie öffnete den Kleiderschrank, um nach einer anderen Bluse zu suchen.
Weiß? Nein. Rosa? Auch nicht, doch hier war noch diese silbergraue Schleifenbluse. Die hatte sie schon eine Ewigkeit nicht getragen. Zusammen mit der Blutsteinkette und den dazu passenden Ohrsteckern sah sie gar nicht übel aus. Noch ein wenig Lippenstift, dann machte Sybille sich auf den Weg zu ihrem Vater.
Sie konnte zwar nicht verstehen, warum er sich die Tortur eines Staatsbegräbnisses freiwillig antat, aber er behauptete, als alter Parteifreund wäre es seine Pflicht, an der Trauerfeier teilzunehmen. Das war sicher nicht ganz unrichtig, Sybille vermutete jedoch, dass er Langeweile hatte und die Gelegenheit nutzte, um ehemalige Kollegen zu treffen.

*

Obwohl Sybille fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit vor dem Haus ihres Vaters hielt, stand Heinrich Meixner schon bereit. Gut sah er aus, mit seinem schwarzen Mantel und dem schlohweißen Haar.
Er bedeutete ihr einzuparken, doch sie öffnete nur das Fenster: „Komm, steig ein, mit deinem Schlitten bekommen wir doch nie einen Parkplatz.“
„Irrtum mein Kind, mit meinem Schlitten brauchen wir keinen Parkplatz.“
Dieser Logik konnte sie zwar nicht folgen, aber sie wollte nicht schon am frühen Morgen mit ihm diskutieren. Also sagte sie nur: „Okay, aber ich fahre.“
„Meinetwegen.“
Sybille parkte ihren Wagen seufzend ein und nahm im großen, alten Mercedes ihres Vaters Platz. Schön war er ja, mit seinen weinroten Ledersitzen und den Rosenholzeinlagen auf dem Armaturenbrett, aber verdammt unpraktisch.
Während sie den Wagen vorsichtig durch den dichten Morgenverkehr lenkte, fragte er: „Wie geht’s meiner Enkelin?“
„Im Moment vermutlich gar nicht gut, sie hat heute Literaturtest und bestimmt zu wenig gelernt.“
„Das arme Kind muss sich mit toten Dichtern herumschlagen, wo es doch so viel Spannenderes gibt.“
„Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir gegenüber jemals auch nur halb so viel Bedauern ausgedrückt hättest.“
„Du warst sowieso immer eine Streberin. Deswegen hast du auch so wenig Verständnis für deine Tochter. Kerstin ist halt mehr der praktische Typ.“
Da sie sich bereits dem Friedhof näherten, enthielt Sybille sich einer Antwort, obwohl es sie schon längere Zeit wurmte, dass ihr Vater, wie auch ihr Ex-Mann, immer die Verständnisvollen gaben und es ihr überließen, sich um den nervigen Alltag zu kümmern.
„Hier gleich rechts“, dirigierte er sie auf den Parkplatz der Ehrengäste.
„Ich weiß nicht, ich bin doch kein Ehrengast.“
„Ich schon“, antwortete er mit Würde und kletterte aus dem Auto. Der Parkwächter grüßte respektvoll und steckte wortlos eine Nummer hinter die Windschutzscheibe.
„Na bitte, geht doch“, lächelte ihr Vater und reichte ihr seinen Arm.

*

Die Trauerfeier für Doktor Winter zog sich endlos dahin.
Auf dem Sarg stand ein Gesteck aus roten Rosen, davor der Kranz der Witwe, ebenfalls aus roten Rosen, flankiert von einer Vielzahl anderer Kränze mit schwarzen, roten und goldenen Schleifen.
Mein Gott, die arme Frau, dachte Sybille mit einem Blick auf die Mutter des Toten, die von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn flankiert wurde. Daneben saß die Witwe, Linda Winter, eine schlanke Schönheit mit blondem Haar. Kerzengerade saß sie da, mit breitkrempigem Hut und Sonnenbrille. Sybille kannte sie von einigen Veranstaltungen, hatte aber nie mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihr getauscht.
Als letzter Redner trat der Kanzler, Elmar Reifenstein, an das Rednerpult.
„Wir alle sind zutiefst erschüttert vom Unfalltod unseres verehrten Sozialministers. Mit Richard Winter verliert nicht nur eine Frau ihren Ehemann, eine Mutter ihren Sohn. Unser Land verliert einen überaus beliebten Politiker, einen aufrechten Demokraten – wir alle verlieren einen Freund.“
Schleimer, dachte Sybille. Die beiden hatten einander nie gemocht. Sie konnte sich noch allzu gut an die Auseinandersetzung erinnern, die sie erst vor wenigen Tagen gehabt hatten; von Freundschaft war da wenig zu spüren gewesen.
Nun ja, im Angesicht des Todes sah manches anders aus, dennoch nahm sie dem Kanzler seine Trauer nicht ab.
„… couragiert beteiligte er sich an kontroversen Debatten, setzte Akzente, kämpfte für seine Überzeugung und verlor dabei nie das eine große Ziel aus den Augen …“
Papperlapapp. Einen engstirnigen Technokraten hatte er Winter erst unlängst genannt, schoss es Sybille durch den Kopf.
Nachdem der Kanzler seine Rede beendet hatte, spielte das Orchester das Largo aus Händels Oper Xerxes, ein unbekannter Kammersänger sang das Ave-Maria, dann, endlich, setzte sich der Trauerzug in Bewegung.

*

Es war schon ein Uhr Mittag, als Sybille den Festsaal des Hotels betrat, in dem ein Imbiss auf die Trauergäste wartete.
Dankbar nahm sie ein Glas Bier entgegen und bediente sich am Buffet. Am Morgen hatte ihr das bevorstehende Begräbnis den Magen zugeschnürt, doch nun war sie hungrig. Sybille wählte kalten Braten, ein faschiertes Laibchen, etwas Salat und setzte noch ein gefülltes Ei obendrauf, ehe sie sich nach einem freien Platz umsah. Am anderen Ende des Saales stand ihr Vater mit Kanzler Reifenstein an einem der Stehtische und winkte sie zu sich. Sybille zog es vor, die beiden zu übersehen und nahm an einem der Tische Platz, an dem bereits einige Mitarbeiter aus dem Ministerium saßen.
Winters Sekretärin, Frau Schmidt, die lediglich vor einer Tasse Tee saß, warf einen schrägen Blick auf Sybilles Teller.
„Halten Sie mich nicht für gefühllos“, beantwortete Sybille die unausgesprochene Frage, „aber ich habe kaum gefrühstückt.“
„Das Leben geht weiter“, meinte ein Hofrat jovial, der vor einem vollen Teller saß und genussvoll in ein resches Kaisersemmerl biss.
„Ich kann immer noch nicht verstehen, wie das passieren konnte“, klagte Frau Schmidt. „Er war doch so ein vorsichtiger Fahrer.“
„Übervorsichtig, einfach ungeübt“, kommentierte Ludwig, Winters langjähriger Chauffeur. „Ich mache mir die größten Vorwürfe, dass ich nicht zurück war, als er losfuhr. Dabei war diese Botenfahrt ohnehin für die Katz gewesen.“
Ungeübt oder nicht, jedenfalls war Sybille immer noch völlig unklar, warum Winter auf einer schnurgeraden Landstraße gegen einen Baum gefahren war. Der Wagen hatte sich überschlagen, war über eine Böschung gestürzt, Genickbruch. Aus, Ende.
Der Amtsarzt hatte versichert, Winter sei sofort tot gewesen.
Winter war vielleicht kein besonders talentierter Politiker, kein charismatischer Redner gewesen, aber er war ehrlich bemüht, die ihm übertragene Verantwortung zum Nutzen der Menschen einzusetzen. Mehr konnte man doch nicht machen, dachte Sybille, während sie den anderen mit einem Ohr zuhörte. Sie hätte jetzt gern ein Glas Wein getrunken, aber das musste bis zum Abend warten. Das Gespräch am Tisch drehte sich im Kreis, und während Sybille überlegte, ob sie heute noch ins Amt fahren sollte, kam der Kanzler auf sie zu.
„Hallo Bille, schön dich zu sehen, wenn auch der Anlass ein trauriger ist. Könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“ Er sandte sein charmantes Lächeln über den Tisch, streckte die Hand nach Sybille aus und sagte: „Sie entschuldigen uns“. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Bille. So hatte immer nur er sie genannt, früher.
Elmar Reifenstein steuerte auf den Rauchersalon zu, doch als er sah, dass sich dort auch andere Gäste aufhielten, änderte er die Richtung und ging in die Bar, die um diese Tageszeit leer war.
Galant wartete er, bis sie Platz genommen hatte.
„Was möchtest du trinken?“
„Eine Melange, bitte.“
Er bestellte auch noch einen Mokka für sich, dann wandte er sich ihr lächelnd zu.
„Tragisch, die Sache mit Winter, sehr tragisch. Dennoch müssen wir an die Zukunft denken.“
Er machte eine kunstvolle Pause und zündete sich unter Missachtung des Rauchverbotes eine Zigarette an, ehe er weitersprach.
„Ich kann mir vorstellen, dass dich das alles sehr belastet, schließlich hast du eng mit Winter zusammengearbeitet. Dennoch muss ich dich noch heute fragen: Kannst du Winters Ressort weiterführen?“
„Ja, sicher. Für wie lange?“
Er schüttelte den Kopf, der Kellner brachte den bestellten Kaffee und stellte kommentarlos einen Aschenbecher auf den Tisch.
„Für den Rest der Legislaturperiode, als Ministerin meines Kabinetts.“
„Du willst mich zur Ministerin machen? Ist dir eigentlich klar, dass ich gar kein Parteimitglied bin?“
Er lächelte: „Ich weiß. Sehr bedauerlich, lässt sich aber nachholen. Ich lasse dir heute noch eine Beitrittserklärung übermitteln. Bille, du warst Winters rechte Hand, bist in alle aktuellen Projekte eingearbeitet, kennst die Probleme, die handelnden Personen – wir brauchen dich jetzt.“
Mein Gott, wie pathetisch.
„Wir, die Partei oder wir, der Kanzler von Gottes Gnaden?“
„Immer noch die gleiche Spötterin“, konstatierte er mit einem kleinen Lächeln.
Sybille hatte sich schon gefragt, wer ihr neuer Chef werden würde, dass man ihr das Amt antragen könnte, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Dabei war es nicht ganz unlogisch – der Gedanke gefiel ihr.
„Wie lange habe ich Zeit, darüber nachzudenken?“
Er lächelte sein charmantes Lausbubenlächeln und sagte schmeichelnd: „Bille, was gibt es denn da zu überlegen? Wir zwei werden denen jetzt einmal zeigen, wo der Bartel den Most holt. Wir waren immer schon ein gutes Team!“
Oh ja, sie waren ein gutes Team gewesen – in jeder Beziehung. Früher. Aber daran würde sie jetzt besser nicht denken, sonst knallte sie ihm vielleicht doch noch den Aschenbecher an den Kopf. Stattdessen fragte sie: „Wie lange also?“
„Sagen wir bis morgen früh? Wie du dir sicher vorstellen kannst, haben wir nicht viel Zeit. Die Oppositionsparteien werden ebenso versuchen, das entstandene Machtvakuum auszunutzen, wie unser heiß geliebter Koalitionspartner.“
„Kann man es ihnen verdenken?“

*

„Nun, was hatte Elmar so Wichtiges mit dir zu besprechen?“, fragte ihr Vater, als sie wieder im Auto saßen.
Ein kurzer Seitenblick genügte ihr. „Du weißt es also schon.“
„Natürlich weiß ich es – Frau Minister.“
Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte sein Leben lang für die Partei gearbeitet und einige sehr wichtige Ämter bekleidet, Minister zu sein hätte er, wie sie nur zu gut wusste, stets als Höhepunkt seiner Karriere betrachtet.
Wie zur Bestätigung sagte er: „1991 bin ich als Gesundheitsminister vorgesehen gewesen, aber dann haben wir die Wahlen verloren und sind in Opposition gegangen.“
„Ich weiß. Einen kettenrauchenden Gesundheitsminister hielt ich damals schon für eine klassische Fehlbesetzung. Apropos, warst du schon beim Arzt?“
Er knurrte Unverständliches.
„Also nicht. Papa, wie oft …“
„Ja, ja, ich geh’ hin. Sag mir lieber: Hast du Elmar schon zugesagt?“
„Natürlich nicht.“
„Wie lange willst du ihn hinhalten?“
„Ich will ihn doch nicht hinhalten, ich will darüber nachdenken.“
In der Zwischenzeit waren sie vor seinem Haus angekommen. Er bedeutete ihr, den Wagen einfach stehen zu lassen.
„Da gibt es doch nichts zu überlegen“, sagte er ungeduldig. „Natürlich machst du das!“
„Ach ja? Weißt du, wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das Vorschläge, die wie Befehle klingen.“
Er lachte: „Ich weiß, darin kommst du ganz nach mir. Deshalb wirst du auch annehmen.“ Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und stieg aus.
Die Aussicht, ganz nach ihrem Vater zu kommen, beflügelte Sybille nicht gerade. Nicht, dass sie ihn nicht mochte, aber … nun ja, sie waren eher selten einer Meinung.

*

Auf dem Heimweg erledigte Sybille gleich den Einkauf für die nächsten Tage. Während sie den Einkaufswagen durch die Gänge schob, überlegte sie, wie viel Zeit ihr für derartige Alltäglichkeiten noch bliebe, wenn sie erst einmal Ministerin wäre. Wie viel Zeit hätte sie dann noch für Kerstin, für ihre Freunde? Kerstin war in einem schwierigen Alter.
Anderseits reizte sie das Angebot. Es bot ihr die Chance, selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Wie oft hatte sie sich das gewünscht? Wie oft würde sich ihr eine solche Möglichkeit bieten?
In weniger als 17 Stunden musste sie sich entschieden haben. „Was Kerstin wohl sagen wird?“, überlegte sie.
Sybille beschloss, Hühnerschnitzel und Gurkensalat zu machen. Kerstins Lieblingsspeise. Bei anderen Speisen zickte sie neuerdings herum – sie bevorzuge „Low Carb“. Bei Schnitzel und Süßigkeiten vergaß sie darauf.

*

„Hühnerschnitzel und Gurkensalat? Wie cool ist das denn? Dazu noch Kerzen? Ich hab’ doch nicht Geburtstag“, rief Kerstin, als sie ins Esszimmer kam.
„Du tust ja, als ob wir üblicherweise im Stehen Dosenfutter in uns hineinschaufeln würden“, entgegnete Sybille und schenkte sich das langersehnte Glas Weißwein ein.
„Stimmt, zu Spaghetti reicht es meistens noch. Montags mit Pesto, dienstags aglio olio, mittwochs mit Tomatensugo, natürlich aus dem Glas …“
„Das ist eine Unterstellung“, unterbrach Sybille lachend. „Allerdings könnte es sein, dass ich in nächster Zeit noch weniger Zeit zum Einkaufen und Kochen habe …“
„Echt jetzt? Opa ist doch der totale Checker!“
„Was meinst du?“
„Du wirst Ministerin. Logo.“
Sybille, die gerade den ersten Bissen in den Mund stecken wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Wie bitte? Opa hat mit dir darüber gesprochen? Wann?“
„Gestern, als er mich vom Theater abholte. ‚Wenn unser Kanzler g’scheit ist, wird deine Mutter Ministerin‘, hat er gesagt. Echt cool.“
Jetzt brauchte Sybille einen weiteren Schluck Wein. Dass ihr Vater hinter ihrem Rücken über eine Möglichkeit spekuliert hatte, die sie niemals in Betracht gezogen hätte, musste sie erst einmal hinunterspülen.
„Und wie fändest du das?“, fragte sie, während sie noch etwas Salat nahm.
„Ja, eh cool! Die blöde Berghammer traut sich dann nie mehr, mir einen Fünfer zu geben, wenn du Ministerin bist.“
Frau Professor Berghammer schien in der Tat nicht gut auf ihre Tochter zu sprechen zu sein, Sybille vermutete allerdings, dass Kerstin an diesem Umstand nicht ganz unschuldig war.
Wie auch immer, Kerstin hatte recht, eine Menge Leute würden in Zukunft ganz anders mit ihnen umgehen. Als ihr Vater damals Generalsekretär wurde und regelmäßig im Fernsehen zu sehen war, hatte sie selbst in der Schule kurzfristig so etwas wie Starruhm erlangt. Später, auf der Uni, interessierte das allerdings kaum jemanden.
Gegen ihre Überzeugung antwortete sie: „Ich glaube nicht, dass mein Amt, so ich es denn annehme, etwas mit deinen Schulnoten zu tun hat.“
„Mama“, prustete Kerstin, „das musst du noch üben. Man merkt einfach immer, wenn du lügst. Apropos, weißt du eigentlich, woran man erkennt, dass ein Politiker lügt?“
Kauend schüttelte Sybille den Kopf.
„Daran, dass er den Mund aufmacht.“ Kerstin nahm einen Schluck Limonade: „Den hab’ ich von Papa.“
„Das war ja klar. Dein Vater hatte schon immer ein gestörtes Verhältnis zur Politik. Ich werde euch beweisen, dass es auch anders geht! Und keine Privilegien, schon gar nicht in der Schule. Apropos, wie war dein Literaturtest?“

*

Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, Sybille legte das Buch, in dem sie ohnehin kaum gelesen hatte zur Seite, warf noch ein frisches Scheit in die Glut, sah zu, wie es Feuer fing und neu aufflammte. Dann griff sie nach ihrem Glas, aber es war leer – Zeit zu Bett zu gehen. Morgen war ein spannender Tag, vermutlich würden in nächster Zeit alle Tage spannend werden.
Sie hatte ihren Job als Kabinettschefin gemocht, weil sie eine Menge Einfluss nehmen konnte, ohne im Rampenlicht zu stehen.
Nur manchmal hatte sie gewünscht, selbst das Ruder in der Hand zu haben. Winter schien ihr oft zu zögerlich, zu wenig entschlossen zu sein.
Sie kannte die Herausforderungen, die vor ihr lagen, nur zu gut; zu allererst musste die Pensionsreform angegangen werden. Es war den Jungen gegenüber einfach unverantwortlich, noch länger zuzuwarten. Sie hatte nie verstanden, warum Winter das immer hintangestellt hatte. Es gab im Sozialressort zurzeit einfach nichts Wichtigeres, auch wenn der Koalitionspartner sich wieder einmal zierte.
Natürlich war es wichtig, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, aber dafür konnte der Wirtschaftsminister deutlich mehr tun, und dieser übertriebene Konsumentenschutz, für den Winter sich so stark gemacht hatte, mein Gott, das grenzte doch schon an Entmündigung.
Sybille lächelte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sie Derartiges öffentlich sagte. Kerstin hatte wohl recht. Auch wenn sie versuchen würde, so wenig wie möglich an ihrem bisherigen Leben zu ändern, würde manches anders werden. Kurz überlegte sie, ob der Preis vielleicht doch zu hoch sei, aber in Wahrheit hatte sie sich längst entschieden.
Während Sybille ins Bad ging und mechanisch ihre Abendtoilette erledigte, fiel ihr ein, wie sehr sie sich in ihrer Jugend dagegen gewehrt hatte, auch nur in einem Atemzug mit den Konservativen genannt zu werden. Damals, als sie aus Protest gegen ihren Vater zu den Grünen ging, waren Berufspolitiker für sie das Allerletzte gewesen.
Richterin hatte sie werden wollen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Mein Gott, war sie naiv gewesen.
Dennoch hatte es ihr anfangs Spaß gemacht Richterin zu sein, aber nach dem Wechsel in die Bestandsabteilung ging ihr der tägliche Streit um eingeklagte Mietzinse, falsche Betriebskosten-Abrechnungen und uneinsichtige Nachbarn bald auf den Geist, und als ihr dann der Posten im Justizministerium angeboten wurde, hatte sie nicht lange gezögert – obwohl sie schon damals wusste, dass ihr Vater bei diesem Wechsel seine Hand im Spiel gehabt hatte.
Nach der letzten Wahl war dann der überraschende Wechsel ihres damaligen Chefs ins Sozialministerium gekommen. Ein Konservativer an der Spitze des Sozialministeriums, das war vielleicht ein Wirbel gewesen. Die Gewerkschaft hatte schon zum Streik aufgerufen, bevor Winter überhaupt noch Piep sagen konnte, und auch ein Teil der Medien hatte Stimmung gegen ihn gemacht.
Nicht weniger überraschend, aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, war ihre Berufung zu seiner Kabinettschefin gewesen.
Bis zu jenem Zeitpunkt hatte Sybille es vermieden, mit ihrem Vater über Politik zu reden, danach aber sein Wissen um interne Abläufe und sein Gespür für die möglichen Reaktionen des politischen Gegners zu schätzen gelernt. Nicht, dass sie seine Positionen allzu oft teilte, aber sein Insiderwissen war einfach nicht zu verachten, sie konnte auch in Zukunft davon profitieren.
Apropos, sie musste dafür sorgen, dass er endlich zu diesem Internisten ging. Die Sache mit seinem Husten war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

2. Zwei Konservative

In der Nacht hatte Sybille geträumt, dass sie vor einer riesigen Menschenmenge stand. Die Leute jubelten ihr zu, sie hatte gewinkt, war lächelnd ans Mikrofon getreten und hatte keinen Ton herausgebracht. Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen war sie aufgewacht.
Ein ganz logischer Traum, dachte sie jetzt auf dem Weg ins Kanzleramt, ich habe einfach Angst. Stinknormale Angst.
Aber das war nur ein Grund mehr für sie, das Amt anzunehmen.
Sie hatte Elmar schon telefonisch über ihre prinzipielle Zusage informiert, und während sie sich im Schritttempo dem Kanzleramt näherte, überlegte sie, wie es sich anfühlen würde, in Zukunft wieder enger mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie waren sich einmal sehr nahegestanden. Aber das war lange her.
Jetzt ging es erst einmal darum, Elmar ihre Standpunkte klarzumachen. Sie wollte das Amt, – aber nicht um jeden Preis.
Endlich parkte sie ihren Wagen in der gegenüberliegenden Garage und dachte amüsiert: Ich muss Elmar fragen, wann er eigentlich zu den Konservativen gewechselt ist. Als Siebzehnjährige waren sie gemeinsam den Grünen beigetreten, aus Protest gegen das Establishment – heute waren sie beide ein Teil davon.
Doch für derartige Gespräche blieb zunächst keine Zeit. Erst kam Vizekanzlerin Moser ins Büro, und als die sich verabschiedete, wartete bereits der Generalsekretär, später kam auch noch der Klubobmann.
Als Sybille drei Stunden später das Kanzleramt verließ, hatte sie immer noch kein privates Wort mit Elmar gewechselt; stattdessen waren sie zum Abendessen verabredet.

*

Auf dem Weg ins Ministerium gestand Sybille sich ein, dass sie bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Bedingungen zu formulieren. Dennoch war alles bereits beschlossene Sache. Der Parteivorstand würde noch heute ihre Bestellung absegnen. Einen Gegenkandidaten gäbe es nicht, hatte Elmar erklärt. Sybille bezweifelte, dass sich niemand für das Amt interessierte, konnte aber auch nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, dass für Elmar offenbar kein anderer in Frage kam.
Sie hätte ihm ja auch nur sagen wollen, dass sie das Amt zwar annehmen, aber weiterhin für ihre Überzeugungen einstehen würde. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, es einfach zu tun, als lange darüber zu schwätzen.
Da bis zum Zusammentreten des Parteivorstandes am späten Nachmittag alles noch streng geheim bleiben musste, setzte Sybille sich an ihren alten Schreibtisch und überlegte, wie sie die Stunden bis zur Öffentlichmachung am besten nutzen konnte.
Sie blätterte die Zeitungen durch und stieß dabei auf einen Artikel im Tagblatt:

Der Tod des Sozialministers gibt Rätsel auf

Wie bereits mehrfach berichtet, ist Sozialminister Dr. Richard Winter vergangene Woche mit seinem Dienstwagen tödlich verunglückt. Das Begräbnis mit staatlichen Ehren fand gestern am Zentralfriedhof statt (Bericht Seiten 10/11).
Immer noch ein Rätsel bleibt indes, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Der Wagen des Ministers ist auf trockener, gerader Straße mit einer Geschwindigkeit von knapp 100 km/h gegen einen Baum geprallt.
Warum er von der Straße abgekommen ist, konnte auch durch die Untersuchung des Wracks nicht geklärt werden. Die Obduktion des Leichnams ergab ebenfalls keinerlei Hinweise auf ein Fremdverschulden.
Inzwischen wurde bekannt, dass der Chauffeur des Ministers zur fraglichen Zeit eine von Doktor Winter persönlich angeordnete Botenfahrt zu erledigen hatte, die allerdings ergebnislos blieb, da die abzuholenden Unterlagen nicht auffindbar waren.
V.R.

V.R., Viktor Raab, der Chefredakteur des Tagblatts.
Ich habe ihn für klüger gehalten, dachte Sybille. Was hätten die Untersuchungen denn ergeben sollen? Das klang ja, als vermute er einen Mordanschlag. So ein Quatsch. Wer sollte denn Winter nach dem Leben trachten?
Sie legte die Zeitung zur Seite, bearbeitete einige Mails und überlegte dabei, wen sie in ihr Team berufen sollte.
Es gab da einen jungen Mann im Ministerium, der ihr schon einige Male sehr positiv aufgefallen war, den wollte sie ebenso dabeihaben wie Doris, ihre langjährige Assistentin. Doch sie musste mit Fingerspitzengefühl vorgehen, denn eines hatte sie gelernt: Nichts konnte einen Minister schneller zum Straucheln bringen als missliebige Beamte. Schließlich konnte jeder Einzelne von ihnen davon ausgehen, dass er noch hier sitzen würde, wenn sie längst wieder abgegangen war.
Trotzdem würde sie keinesfalls Frau Schmidt, Winters Sekretärin, übernehmen. Das stets säuerliche Gesicht und dieses affige Getue um nichts und wieder nichts würde sie sich nicht antun. Aber wohin mit ihr? Sie konnte sie ja schlecht in den Schreibpool versetzen.

*

Als Sybille kurz vor zwanzig Uhr das Restaurant betrat, hatte sie einen Bärenhunger. Anscheinend war die Sitzung des Parteivorstandes doch nicht ganz so glatt verlaufen, denn der Kanzler hatte den ursprünglich vereinbarten Termin zweimal verschoben. Wenigstens hatte sie so Zeit gehabt, auf einen Sprung daheim vorbeizufahren.
Da Elmar noch nicht da war, bestellte sie ein Glas Prosecco und ersuchte den Kellner um ein Stück Weißbrot.
Elmar kam etwa zwanzig Minuten später im Eilschritt.
„Entschuldige, meine Liebe. Unsere verehrten Parteifreunde haben wieder kein Ende gefunden.“
„Dann war meine Bestellung also doch kein Spaziergang?“
„Einige haben bemängelt, dass du kein Parteimitglied bist, beziehungsweise warst, und unser hochverehrter Wirtschaftsminister hat sich auch noch bemüßigt gefühlt darauf hinzuweisen, dass du seinerzeit bei den Grünen mitgearbeitet hast.“
„Du doch auch“, warf sie lachend ein.
Er winkte ab. „Vergiss es, der will sich doch nur seiner eigenen Wichtigkeit versichern. Jedenfalls ist jetzt alles klar und wir geben morgen eine entsprechende Mitteilung an die Presse. Frau Ministerin, auf Ihr Wohl!“
Er hob das Glas, das der Kellner in der Zwischenzeit unaufgefordert vor ihn hingestellt hatte, und prostete ihr zu, dann vertieften sie sich in die Speisekarte.
Sie entschied sich für Jakobsmuscheln auf Pilztartar, danach Seeteufel mit Rucola-Spinat und Kartoffelchips.
Später sagte sie: „Irgendwie kommt mir das alles noch ziemlich unwirklich vor. Warum wolltest du unbedingt mich?“
„Ach weißt du, da oben, im Kanzleramt, da ist die Luft ziemlich dünn – und ich wollte jemanden haben, dem ich vertrauen kann. Einen Freund.“
Konnte es sein, dass er in der Zwischenzeit gelernt hatte, was es hieß, Freunde zu haben? Schließlich war das zwischen ihnen lange her. Sie lächelte ihm zu und fragte nach dem Befinden seiner Frau.
„Ich fürchte, Marietta geht’s im Moment ziemlich bescheiden. Die Zwillinge sind seit Anfang Oktober in London, um Jura zu studieren.“
„Das ist doch fantastisch! Ich wollte, Kerstin wäre schon so weit.“
Der Kellner brachte die Vorspeisen und schenkte einen frischen, jungen Weißwein ein. Nachdem sie ihn verkostet hatten, fuhr Elmar fort: „Ich finde es auch gut, aber du weißt ja, Marietta ist eine so pflichtbewusste Mutter.“
„Hat sie die Mädels damit in die Flucht geschlagen?“
Er grinste: „Da könnte was dran sein. Also, meinetwegen sind sie sicher nicht ausgerückt, wir haben uns ohnehin kaum gesehen.“
Das sind eben die Schattenseiten eines solchen Amtes, dachte Sybille, während der Kellner die leeren Teller abservierte. Sie würde von Anfang an darauf achten, dass die Familie nicht zu kurz kam, zumindest das, was von ihr übrig war. Trotzdem war sie froh, dass Kerstin sich in letzter Zeit wieder besser mit ihrem Erzeuger verstand – und Opa war schließlich auch noch da.
„Ich bin wirklich sehr froh, dich jetzt in meinem Team zu haben“, unterbrach Elmar ihre Gedanken. „Der Bundespräsident war übrigens ausnahmsweise einmal zufrieden mit meiner Wahl.“
„Er kennt mich doch kaum.“
„Glaubst du“, lachte er. „Ich nehme an, dass die offizielle Angelobung gleich am Montag stattfinden wird. Danach kannst du Winters Reich in Besitz nehmen. Du wirst sicher die ein oder andere Änderung vornehmen wollen – dabei hast du freie Hand.“
Sie blickte versonnen in ihr Wasserglas, ehe sie antwortete:
„Du meinst Veränderungen in den Räumen? Ich weiß nicht, es ging ja alles so schnell – und seit dem Unfall scheint mir überhaupt alles so unwirklich. Erst der Schock über seinen Tod. Wir waren davor noch gemeinsam Mittagessen – zwei Stunden später – aus und vorbei. Die Tage danach waren angefüllt mit Hektik und Betroffenheit. Gestern dann dein unerwartetes Angebot …“
Der Kellner brachte die Hauptspeisen. Elmar hatte Heilbutt bestellt.
„Seit wann isst du Fisch?“, fragte sie.
„Seit ich Fleisch abends nicht mehr so gut vertrage. Hans-Georg meint, ich hätte einen nervösen Magen. Politikerschicksal. Kannst du dich noch an Hans-Georg erinnern?“
Sie nickte und spülte den Seeteufel mit einem Schluck Wein hinunter, ehe sie antwortete: „Hans-Georg, der Schöne, wie könnte ich ihn vergessen?“
„Dann hast du ihn lange nicht gesehen“, lachte Elmar. „Er trägt jetzt Glatze, einen Schnurrbart und neuerdings etwas Bauch. Seine Wirkung auf Frauen dürfte allerdings ungebrochen sein. Marietta ist heute mit ihm in der Oper.“
„Ich dachte, Hans-Georg ist verheiratet?“
„Nicht mehr. Aber um noch mal auf dein Team zu sprechen zu kommen …“

3. Der Kanzler – fast ganz privat

Während Kanzler Reifenstein am nächsten Tag sein Frühstücksei köpfte, fragte er seine Frau: „War’s nett gestern Abend?“
„Ganz wundervoll. Die Petersen als Violetta, einfach großartig, und Rolando V…“
„Keine Details, Liebling, welches Stück?“
„La Traviata“, entgegnete sie kühl und setzte noch eisiger hinzu: „Verdi“, dann widmete sie sich ihrem Müsli.
Hatte er schon wieder etwas Falsches gesagt? Mein Gott, was war sie in letzter Zeit empfindlich. Am besten, er kümmerte sich gar nicht darum und nahm sich stattdessen das Tagblatt vor. Die politisch interessanten Artikel wurden ihm von seiner Presseabteilung zusammengestellt, zum Frühstück gönnte er sich den Sportteil. Er überflog kurz die neuesten Ergebnisse, doch eigentlich interessierte ihn vielmehr, wo Marietta gestern Abend so lange gewesen war. Er legte die Zeitung wieder zur Seite, angelte sich noch ein Stück Toast und fragte: „Wie geht es Hans-Georg?“
„Gut, er lässt dich grüßen. Du sollst nicht deinen Jahres-Check vergessen.“
Darauf ging er besser nicht ein, er würde den Teufel tun und sich von Hans-Georg untersuchen lassen. Aber das behielt er besser für sich, er wollte schließlich wissen, wo sie sich so lange herumgetrieben hatte. Als er nach Hause gekommen war, war sie jedenfalls noch nicht da gewesen. Dummerweise war er dann vor dem Fernseher eingenickt, und als er endlich zu Bett ging, hatte sie schon geschlafen – oder zumindest so getan.
„Seid ihr noch essen gewesen?“, bohrte er weiter.
„Wir haben nur ein Glas Champagner getrunken.“
Das musste ja ein großes Glas gewesen sein, so spät, wie sie gekommen ist, dachte er.
„Wie war dein Abend mit Sybille?“, fragte sie.
„Ging so.“ Typisch, sich selbst mit anderen Männern die Nacht um die Ohren schlagen und ihn nach seinem harmlosen Essen mit Bille fragen. Wahrscheinlich war sie immer noch eifersüchtig. Lächerlich, schließlich hatte er Sybille ihretwegen verlassen.
Er spülte das letzte Stück des Toasts mit einem Schluck Kaffee hinunter: „Ich muss jetzt, Liebling. Fürchte, es wird heute Abend später werden.“
„Das wird es doch immer“, antwortete Marietta und hielt ihm die Wange zum Kuss hin.

*

Kaum saß Elmar im Auto, läutete sein Handy.
„Was hast du uns denn jetzt wieder angetan?“, dröhnte der Präsident der Wirtschaftskammer in gewohnt undiplomatischer Art. „Ausgerechnet die Hold-Meixner setzt du ins Sozialministerium? Die ist doch ebenso unberechenbar wie ihr Alter. Also …“
Er ließ ihn nicht ausreden: „Mach dir keine Sorgen, die hab’ ich voll im Griff. Bille und ich, wir waren einmal … also, das ist natürlich schon lange her, aber alte Liebe rostet ja bekanntlich nicht – Bille wird genau das tun, was wir beschließen.“
„Überheb dich nur nicht. Wenn wir schon die historische Chance haben, das Sozialministerium zu besetzen, dann …“
„Entschuldige Rüdiger, aber ich werde erwartet. Du wirst sehen, Bille wird eine ganz hervorragende Figur machen. Servus!“
Er beendete das Telefonat und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Natürlich war Bille nicht die Idealbesetzung, aber es war ihm einfach niemand eingefallen, der loyaler wäre als sie. Außerdem hatte er schon genug Schlaumeier um sich, die an nichts anderem interessiert waren als daran, ihm sein Amt streitig zu machen. Bille würde das niemals tun, außerdem wären diese Schuhe ohnehin zu groß für sie.
Sie waren damals ein vielversprechendes Paar gewesen. Bille war eine Pragmatikerin und hatte ein gutes Gespür für Menschen. Zusammen mit seiner Kreativität und seinem Charisma konnten sie eine Menge bewegen.
Im Kanzleramt angekommen sah er zuerst den Pressespiegel durch. Die meisten Zeitungen berichteten nur kurz über die Neubestellung von Dr. Sybille Hold-Meixner zur Sozialministerin. Bille war ja auch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Nur dieser Oberidiot vom Tagblatt hatte es sich wieder einmal nicht nehmen lassen, blöd daherzuquasseln.

Wer kennt Sybille Hold-Meixner?

In ungewohnter Schnelligkeit ist es Kanzler Reifenstein diesmal gelungen, eine Nachfolgerin für den tödlich verunglückten Sozialminister Richard Winter zu präsentieren.
Wir erinnern uns: Als es nach monatelangen Verhandlungen endlich gelungen war, einen Koalitionspartner zu finden, hat es dennoch Wochen gedauert, bis ein Sozialminister bestellt werden konnte. Diesmal hat man freilich nicht lange gesucht, sondern mit Frau Dr. Hold-Meixner einfach die bisherige Kabinettschefin zur Ministerin berufen.
Die promovierte Juristin ist die Tochter des ehemaligen Generalsekretärs Heinrich Meixner und war bis vor wenigen Tagen nicht einmal Mitglied der Partei.
Es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um einen weiteren „Geniestreich“ des Kanzlers handelt, der bei seinen bisherigen Personalentscheidungen wenig Geschick bewiesen hat.
V.R.

Trottel. Obertrottel. Der würde Bille schon noch kennenlernen.

4. Das neue Amt

Seit dem Tod ihrer Mutter gehörte der Sonntagmittag Sybilles Vater. Manchmal kam er zum Mittagessen, dann wieder lud er sie ins Restaurant ein und wenn das Wetter gut war, so wie heute, machten sie ausgiebige Spaziergänge.
Da Kerstin den Sonntag bei ihrem Vater verbrachte, waren sie diesmal allein. Kaum waren sie einige Schritte gegangen, fragte er: „Hast du dein Team schon beisammen?“
Sybille zögerte, entschloss sich dann jedoch, ihm reinen Wein einzuschenken: „Nicht ganz. Das heißt, wenn Elmar mir nicht einen Kabinettschef aus seinem Ministerium aufs Auge drücken wollte, wäre alles klar. Der Mann ist angeblich ein Zahlengenie und genau das, was ich brauche – sagt Elmar. Außerdem meint er, es wäre klüger, jemanden zu nehmen, der nicht aus meinem eigenen Ministerium kommt.“
Ihr Vater schien darüber nachzudenken, ehe er sagte: „Damit hat er vermutlich recht, schließlich kennst du das Ministerium gut genug und weißt, wie die Leute dort ticken. Wenn der Mann gut ist, warum nicht?“
„Ich glaube eher, Elmar will ihn nur loswerden.“
„Papperlapapp! Du solltest dir von ihm helfen lassen.“
„Ich brauche aber keine Hilfe, schon gar nicht von Elmar“, entgegnete sie aufgebracht.
Er hob beschwichtigend die Hände: „Ist ja gut, ist ja gut.“
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte er: „Ich halte in der Zwischenzeit eine Menge von Elmar. Er ist intelligent, ehrgeizig, ein blendender Rhetoriker und nicht so aufgeblasen wie diese jungen Schnösel heutzutage.“
„Das waren die guten Seiten. Dazu fiele mir noch ein: oberflächlich, berechnend und insgesamt ein Narzisst.“
Ihr Vater schüttelte missbilligend den Kopf: „Ich dachte, ihr seid Freunde.“
„Wir waren Freunde, bevor er mich gegen Geld eingetauscht hat.“
„Du meinst, weil er eure Verlobung aufgelöst und Marietta geheiratet hat? Ich bitte dich, das ist doch Schnee von gestern!“
Bis vor Kurzem hatte Sybille das auch geglaubt, aber in den letzten Tagen war alles wieder sehr lebendig geworden – auch wenn inzwischen mehr als zwanzig Jahre vergangen waren.

*

Nach der Angelobung wurde in der Präsidentschaftskanzlei ein Imbiss gereicht. Anschließend fuhr Sybille ins Ministerium und ließ sich dabei filmen, wie sie ihr neues Büro betrat. Dann rief sie zum allerersten Mal ihr Team zusammen.
Das Zahlengenie überreichte ihr einen riesigen Blumenstrauß und Frau Schmidt, die Elmar als Gegenleistung ins Kanzleramt übernommen hatte, verabschiedete sich mit einem kleinen Umtrunk.
Endlich war Sybille allein in ihrem neuen Reich. Wie lange es das wohl bleiben würde, überlegte sie, während sie ihren Schreibtisch einräumte. Ministerämter waren nicht für die Ewigkeit. Bis zur nächsten Wahl waren es knapp zwei Jahre, in dieser Zeit würde Elmar vermutlich keine Änderungen vornehmen. Was danach kam, blieb abzuwarten.
Den Schlüssel von Richard Winters Privatsafe, den Frau Schmidt ihr feierlich überreicht hatte, würde sie am besten auf ihrem Schlüsselbund montieren. Was Doktor Winter wohl darin aufbewahrt hatte?
Sybille schob den Vorhang zur Seite und öffnete den Safe. Bis auf ein dickes gelbes Kuvert war er leer. Sie nahm es heraus. Es war zugeklebt und unbeschriftet. Ob es private Unterlagen enthielt? Aber dann hätte es Winter sicher nicht hier, im Amt, aufbewahrt.
Rasch entschlossen griff Sybille zum Brieföffner. Sie holte einige Zeitungsausschnitte hervor, Kopien von Kontoauszügen, Tabellen über Aktienkurse, einen handgeschriebenen Zettel mit Internetadressen und einen Bericht über eine Firma WSC-Investments. Ein anderer Zeitungsartikel befasste sich ebenfalls mit WSC, ein Foto zeigte den Chef der Gewerkschaft, darunter stand ein Artikel zum Thema Finanztransaktionssteuer.
Sah ganz danach aus, als wäre Winter an dieser Firma besonders interessiert gewesen, dachte Sybille, denn WSC-Aktien waren auch in den Kurstabellen gelb markiert.
Sie ging zum Computer und rief das Firmenbuch auf. Bei WSC-Investments handelte es sich um eine SE, eine Europäische Aktiengesellschaft, mit Sitz in Wiener Neustadt.
Kopfschüttelnd steckte sie alles in das Kuvert zurück und schloss es wieder im Safe ein. Dann schnappte sie sich ihren Kalender und ging die Termine der nächsten Tage durch.
Kurz nach zwanzig Uhr steckte Ludwig, ihr Chauffeur, seinen Kopf ins Zimmer.
„Verzeihung, Frau Minister, brauchen Sie mich heute noch?“
„Ludwig, auf Sie habe ich ganz vergessen! Entschuldigen Sie, an den Gedanken, einen Chauffeur zu haben, muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber gut, dass Sie da sind, ich wollte ohnehin gerade gehen.“
In der Garage öffnete er ihr die Tür zum Fond.
„Ehrlich gesagt, wenn ich nicht zu arbeiten habe, würde ich lieber vorne sitzen.“
„Selbstverständlich, Frau Minister.“
„Danke, Herr Chauffeur“, antwortete sie grinsend. „Sollten Sie allerdings Wert darauf legen, wieder Ludwig genannt zu werden, dann darf ich Sie bitten, auch mich wieder mit meinem Namen anzusprechen.“
„Gerne, Frau Doktor“, grinste er.
Als der Wagen aus der Garage glitt, fiel ihr der Firmenbuchauszug wieder ein.
„Sagen Sie, an dem Tag, an dem Doktor Winter den Unfall hatte, da waren Sie doch unterwegs gewesen.“
Er nickte und reihte sich in den Abendverkehr ein.
„Erzählten Sie nicht kürzlich, Sie waren in Wiener Neustadt?“
„Allerdings. Die Schmidt hatte mich gebeten, Unterlagen für Doktor Winter abzuholen. Aber dort hat niemand etwas von diesen Unterlagen gewusst. Weder an der Rezeption noch in der Chefetage. Ich habe dann die Schmidt angerufen, aber die hatte wieder einmal keine Ahnung. Faselte nur, dass Frau Winter sie gebeten hätte, für ihren Mann Unterlagen bei WSC abholen zu lassen. Kurz danach kam dann die Nachricht von seinem Unfall, da bin ich wie verrückt zurückgerast, aber …“
Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Sybille verstand auch so. Da ist Winter schon tot gewesen.

*

Einige Tage später meldete sich Linda Winter, um Sybille zum neuen Amt zu gratulieren.
„Ein Amt, das ich unter diesen Umständen lieber nicht angetreten hätte“, antwortete Sybille.
Linda Winter seufzte: „Ich kann es immer noch nicht fassen. Er kam mir immer so … so unverletzlich vor. Manchmal denke ich, er wird gleich anrufen und sagen, dass er aufgehalten wurde. Ach, hätte er sich doch nicht selbst ans Steuer gesetzt. Wissen Sie, seit Frau Schmidt mir erzählt hat, dass die Sache mit den Unterlagen, derentwegen Ludwig unterwegs war, ein Missverständnis gewesen ist, erscheint mir Richards Tod noch unsinniger.“
Sybille konnte den Kummer der Frau nachvollziehen, dennoch hakte sie nach:
„Ich verstehe nicht ganz. Ludwig sagt, Frau Schmidt hätte den Auftrag von Ihnen bekommen.“
„Das stimmt schon. Mein Mann war an jenem Tag spät dran, weil ich ihn zu einem Arzttermin genötigt habe, wegen seines hohen Blutdrucks. Ich habe ihn danach ins Ministerium gebracht, und während er gleich in den Sitzungssaal gelaufen ist, habe ich seinen Auftrag, Ludwig möge irgendwelche Unterlagen für ihn abholen, an Frau Schmidt weitergegeben.“
Sybille hatte in der Zwischenzeit Winters Terminkalender aufgerufen. Es stimmte. Er hatte eine Besprechung mit der Gewerkschaftsspitze gehabt, danach waren sie beide Mittagessen gewesen.
Einen Moment herrschte Stille, dann sagte Sybille: „Wenn ich etwas für Sie tun kann …“
Linda Winter seufzte: „Danke, das ist sehr liebenswürdig, aber ich komme schon zurecht. Wenn Sie noch irgendwelche persönliche Sachen meines Mannes finden, lassen Sie es mich bitte wissen.“
„Selbstverständlich Frau Winter, alles Gute für Sie.“
Nachdem Sybille das Gespräch beendet hatte, blieb sie einen Moment reglos am Schreibtisch sitzen. Gab es eine Verbindung zwischen den Unterlagen im Safe und der sinnlosen Fahrt nach Wiener Neustadt?
Vielleicht sollte sie erst einmal herausfinden, was es mit den Kurstabellen und Kontoauszügen auf sich hatte, doch dazu fehlten ihr die Zeit und das nötige Fachwissen. Kurz entschlossen öffnete sie den Safe und steckte die Unterlagen in ihre Aktentasche. Es gab nur einen Menschen, der ihr helfen konnte: Rita.
Rita war schon in der Oberstufe des Gymnasiums ihre beste Freundin gewesen, und während der ersten Studienjahre hatten sie sich eine Wohnung geteilt. Doch dann hatte Rita Albert kennengelernt, war schwanger geworden und zu ihm gezogen. Albert war deutliche älter als Rita, und Sybille hätte keinen Pfifferling auf diese Ehe gegeben. Erstaunlicherweise hatte sie gehalten.
Rita hatte nach der Geburt ihrer Tochter ihr Studium abgeschlossen, ihre Ausbildung zum Wirtschaftsprüfer gemacht und später die Kanzlei ihrer Mutter übernommen.
Wenn sich also jemand, dem sie absolut vertrauen konnte, mit diesen Unterlagen auskannte, dann Rita.
Ein kurzes Telefonat genügte und sie vereinbarten ein Treffen für das kommende Wochenende.

*

Während Sybille sich mit Albert über die Tücken der Beamtenreform im Allgemeinen und seine Pensionierung im Besonderen unterhielt, vertiefte Rita sich in die mitgebrachten Unterlagen.
„Sieht nach Crossing-Geschäften aus“, unterbrach Rita die beiden schon nach wenigen Minuten.
„Was genau habe ich darunter zu verstehen?“
„Kursmanipulationen.“
„Kursmanipulationen bei WSC-Investments? Möglich, aber was sollte Doktor Winter damit zu tun haben?“, fragte Sybille mehr sich selbst als die anderen.
„Wer steht hinter WSC?“, wollte Albert wissen. Er war Kriminalkommissar gewesen und seit wenigen Monaten im Ruhestand.
Rita reichte ihm den Firmenbuchauszug. Er studierte ihn, schüttelte aber bald darauf den Kopf: „Kenn’ ich alle nicht.“
„Kein Mörder dabei?“, neckte Rita.
„Zumindest keiner, den ich kenne“, gab Albert zurück. Dann wollte er wissen, was es zu essen gäbe.
Im Gegensatz zu Sybille war Rita eine exzellente Köchin, die gerne neue Rezepte ausprobierte. Abendessen bei Rita war immer spannend. Diesmal hatte sie japanisch gekocht. Erst gab es handgerollte Maki und danach köstliche Dim-Sum-Variationen.
Während des Essens sprachen sie über die Kinder und den vergangenen Urlaub, doch als sie beim Kaffee saßen, wandte Sybille sich an Albert: „Wie wahrscheinlich ist es, dass ein gesunder, nüchterner Mann auf trockener Fahrbahn bei etwa 100 km/h die Kontrolle über seinen Wagen verliert und gegen einen Baum fährt?“
„Bei einer Limousine dieser Klasse eher wenig wahrscheinlich“, antwortete Albert.
„In der Zeitung stand, er sei ein ziemlich ungeübter Fahrer gewesen“, warf Rita ein.
Sybille zuckte die Schultern: „Was die so alles schreiben. Natürlich ist er meistens mit Chauffeur unterwegs gewesen, aber deswegen kann man doch noch geradeaus fahren.“
„Was sagt denn Elmar dazu?“, wollte Rita wissen.
Sybille zuckte die Schultern: „Wir hatten noch keine Gelegenheit, darüber zu reden, er weiß auch nichts von diesen Unterlagen. Niemand weiß bisher davon, außer euch beiden, das sollte vorerst auch so bleiben. Zumindest solange wir nicht wissen, was es damit auf sich hat.“
Albert fasste zusammen: „Winter war offenbar Kursmanipulationen einer Firma WSC auf die Schliche gekommen, die ihren Sitz in Wiener Neustadt hat. Am Tag des Unfalls wird sein Chauffeur dorthin beordert, um Unterlagen abzuholen. Er bekommt aber keine Unterlagen. Stattdessen fährt Winter auf trockener Fahrbahn mit 100 km/h gegen einen Baum. Das stinkt doch. Das stinkt sogar ganz gewaltig. Wurde der Wagen überprüft?“
Sybille nickte.
Albert schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an seinen Computer, während die Damen ein kleines Schwätzchen hielten.

*

Weder Alberts Internetrecherche noch ein Besuch in seiner ehemaligen Dienststelle brachten Licht ins Dunkel. Dass WSC eine Europäische Aktiengesellschaft und deren Hauptgesellschafterin und Chefin des Verwaltungsrates eine gewisse Georgine Markuzzi war, wussten sie aus dem Firmenbuchauszug. Doch erstaunlicherweise war im Internet nichts über diese Dame zu finden, außer eben, dass sie Anteile an WSC hielt.
„Seltsam“, schrieb Albert in einer Mail an Sybille. „Menschen, die Kohle in ein Investmentunternehmen stecken, schießen doch nicht wie Schwammerln aus dem Boden.“
Da war was dran.
Auch über den Geschäftsführer der Gesellschaft war wenig bekannt. Laut Website hatte er nach der Matura noch einige Semester Betriebswirtschaft studiert. Danach war er in der Immobilienbranche tätig gewesen.
Sybille fragte bei Ernst, ihrem Ex-Mann, nach, doch auch er kannte den Mann nicht. Ernst war Hausverwalter in dritter Generation, wenn er ihn nicht kannte, war der Mann zumindest nicht an prominenter Stelle tätig gewesen.
„Werde mich mal in Wiener Neustadt umschauen. Melde mich wieder. A.“, mailte Albert.
Immerhin kannten sie jetzt den Betriebsgegenstand. WSC-Investments vermittelte Anlageprodukte und Immobilien. Aber auch das bot keinen Anhaltspunkt.
Bei einem ihrer nächsten Zusammentreffen mit Kanzler Reifenstein berichtete Sybille von ihrem Fund und den Recherchen, die sie angestellt hatte.
Elmar war nicht gerade erbaut darüber. „Nur keine Verschwörungstheorien Bille, ich bitte dich. So etwas kann leicht kippen, ich erinnere dich nur an den Unfalltod des Präsidenten des Heimatbundes.“
„Der war betrunken und ist im Regen mit 120 km/h in eine Kurve gefahren. Das kann man nun wirklich nicht vergleichen.“
„Sagst du. Aber was würde die Presse daraus machen? Winter ist tot, das ist bedauerlich, sehr bedauerlich sogar, aber er wird nicht wieder lebendig, egal was du tust. Sag mir lieber, was hältst du von der neuesten Idee unseres Koalitionspartners?“

*

Als Sybille Rita von diesem Gespräch erzählte, sagte die nur: „Empathiefähigkeit war noch nie seine Stärke.“
Sybille lächelte. Rita war Elmar immer schon kritisch gegenübergestanden, seine politische Karriere hatte daran wenig geändert.
„Ich finde ja auch, dass die Sache seltsam aussieht. Trotzdem möchte ich Alberts Zeit nicht dermaßen beanspruchen.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbrach Rita. „Du rettest gerade meinen Seelenfrieden. Lange hätte ich seine Mithilfe in meiner Kanzlei ohnehin nicht mehr ertragen.“
„So schlimm?“, fragte Sybille lachend.
„Schlimmer. Im Sommer war er Rad fahren und hat meiner Mutter im Garten geholfen, das war super. Aber seit Allerheiligen sitzt er stundenlang in meiner Kanzlei herum und vermutet hinter jedem meiner Klienten einen potenziellen Verbrecher. Ich bitte dich inständig, lass Albert ermitteln, am besten bis zum Frühjahr.“
Nur wenige Tage später berichtete Albert: „Der Geschäftsführer lässt sich nicht allzu oft blicken, und diese Markuzzi erscheint angeblich immer nur zu den Sitzungen des Verwaltungsrates. Dafür habe ich Meller schon zweimal dort gesehen.“
„Unseren Gewerkschaftsboss?“
„Genau den. Kam in einem schnittigen Porsche angebraust.“
„Ach ja?“, lächelte sie. „Offiziell fährt er einen Passat. Wie viele Angestellte hat denn WSC?“
„Vielleicht dreißig, maximal vierzig, derentwegen wird er wohl nicht gekommen sein. Ich häng’ mich mal an seine Fersen.“
„Mach dir bloß keine Umstände“, sagte sie noch, doch da hatte er bereits aufgelegt.

*

In den nächsten Tagen war Sybilles Terminkalender brechend voll, ein Termin jagte den anderen, die Sache mit Dr. Winter und WSC trat mehr und mehr in den Hintergrund und eines Abends überraschte Kerstin sie mit der Ankündigung, im kommenden Schuljahr an die Handelsakademie wechseln zu wollen.
„Ich wusste gar nicht, dass du dich für Buchhaltung interessierst“, antwortete Sybille, während sie die Dose mit den geschälten Tomaten öffnete.
„Du weißt ja auch sonst nichts von mir“, entgegnete Kerstin schnippisch.
Der Ton verhieß nichts Gutes. Sybille zählte bis zehn, ehe sie antwortete: „Im Prinzip halte ich es ja für eine gute Idee, ich bin nur erstaunt.“
Diesmal schien sie die richtige Antwort gefunden zu haben, denn Kerstin verzog sich in ihr Zimmer, und als sie zum Essen wiederkam, erzählte sie gut gelaunt von der Schule. Der Name Daniel kam in ihren Erzählungen mindestens fünfmal vor.
Ob Daniel an Buchhaltung interessiert war?