Lesepr. (K)ein Herz für Buchhändler

  1. Jutta – Der ehrenwerte Herr Bürgermeister

„Er hat dich einfach fallen lassen?“

„Wie eine heiße Kartoffel“, antwortete Jutta.

„Kommt davon, wenn man sich mit seinem Chef einlässt“, murmelte ihr Vater. Das hatte ja kommen müssen. Er hatte mit seiner Meinung über ihre Liaison mit dem Bürgermeister noch nie hinter dem Berg gehalten. Außerdem war ihm die Partei, für die Jutta in den letzten Jahren in der Stadtregierung gesessen war, ebenso suspekt wie deren Chef, Albert Stein. Den mochte er schon gar nicht.

„Und jetzt? Du kannst doch wieder als Lehrerin arbeiten?“, wollte ihre Mutter wissen.

„Typisch Mutter“, dachte Jutta. „Hauptsache, ich kehre in mein sicheres Beamten-Dasein zurück.“ Dementsprechend lustlos entgegnete sie: „Ja, schon.“

Ihre Mutter sah sie forschend an. „Klingt aber nicht, als ob du das möchtest.“

„Da hast du allerdings recht. Vielleicht werde ich später wieder unterrichten, aber zuerst möchte ich ein Buch schreiben.“

„Du willst ein Buch schreiben?“ Ihr Vater schenkte sich Kaffee nach. „Komische Idee.“

Es war ein angenehm milder Tag, der Marillenbaum stand in voller Blüte. Sie saßen auf der kleinen Terrasse ihres Elternhauses und genossen einen der ersten Frühlingstage. Der Winter war lang und kalt gewesen, umso überraschender war es jetzt warm geworden.

„Ihr wisst doch, ich habe schon als Kind gerne gelesen, Geschichten erfunden und niedergeschrieben“, antwortete Jutta träge und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

„Ich lese auch gerne, deshalb muss ich ja noch lange kein Buch schreiben“, warf ihre Mutter dazwischen. „Worüber willst du denn schreiben?“

Es war ihrer Mutter anzuhören, dass sie es ihr nicht zutraute. Auch das war für Jutta nichts Neues. Sie kreuzte mit ihrer Mutter die Klingen, seit sie begonnen hatte, selbstständig zu denken. Ihre Mutter war Kindergärtnerin gewesen, und sie führte ihre Familie so, wie sie seinerzeit ihren Kindergarten geleitet hatte. Autoritär, aber mit den besten Absichten. Juttas Vater hatte sich nur selten dagegen aufgelehnt, Jutta hingegen ständig. Auch jetzt antwortete sie kämpferisch: „Darüber würde ich mir an deiner Stelle weniger Sorgen machen. Ich habe in den Jahren als Stadträtin einiges erlebt, das reicht für mehrere Romane.“

„Hab‘ ich nicht gleich gesagt, Politik ist ein schmutziges Geschäft? Du hättest besser die Finger davon gelassen“, moserte ihr Vater.

Das Verhältnis zu ihrem Vater war immer entspannt gewesen. Sie standen ja auf der gleichen Seite, sie waren die „Zöglinge“. Auch jetzt lächelte sie nur und hielt die Augen geschlossen, während sie antwortete: „Das hast du gesagt, aber es war nur die halbe Wahrheit. Politik ist nämlich auch ein ungemein spannendes Geschäft.“

Jutta lehnte sich zurück. Langsam wurde ihr warm. Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie sorgfältig über den leeren Sessel. Ihr eleganter Hosenanzug passte nicht so richtig hierher, aber sie war direkt vom Rathaus gekommen. Ihre Eltern hatten ihr politisches Engagement ohnehin nie gutgeheißen, da sollten sie von ihrem Rauswurf nicht aus dem Radio erfahren.

Eine Weile blieb es still, dann spürte Jutta ihr Handy vibrieren. Albert. Ihr erster Impuls war, das Gespräch einfach wegzudrücken. Doch das wäre keine besonders erwachsene Reaktion. Also nahm sie es an und fragte kurz angebunden: „Was willst du?“

„Wo bist du denn?“

„Bei meinen Eltern.“

„Kann ich kurz vorbeikommen?“

„Bloß nicht.“

„Ich muss dir doch erklären, was da heute Morgen gelaufen ist.“

Jutta stand auf und ging ein paar Schritte in den Garten, ehe sie ins Telefon zischte: „Das hättest du besser vorher getan. Jetzt ist alles gesagt.“

„Jutta, bitte, ich muss es dir erklären!“

„Du hast mich einfach fallen lassen. Was gibt es da zu erklären?“

„Das stimmt so nicht. Aber davon abgesehen, willst du denn gar nicht wissen, was da gelaufen ist?“

„Ich kann es mir zusammenreimen. Außerdem war dein geschätzter Stellvertreter, unser allseits unbeliebter Herr Vizebürgermeister, so nett, mich aufzuklären. Du warst ja leider nicht erreichbar – zumindest für mich.“ Der Zusatz musste sein. Sie kannte ihn und hatte oft genug miterlebt, wie er unangenehme Gespräche einfach ignorierte.

Diesen Vorwurf ignorierte er ebenfalls. Typisch. Stattdessen fragte er: „Er hat dir erzählt, dass die Sozialisten uns vor die Wahl gestellt haben, dich auszutauschen oder die Sache mit den Reisekosten auffliegen zu lassen – und das sechs Monate vor der Landtagswahl?“

Um unkorrekt abgerechnete Reisekosten ging es also auch. Interessant. Laut sagte sie: „Von Reisekosten hat er nichts gesagt, nur von einer dringend notwendigen Einigung im Bildungsbereich. Die werdet ihr mit diesem neuen Hampelmann sicher erzielen. Sag, ist dieser Niedermayer eigentlich je auf eine ordentliche Schule gegangen oder gleich vom Kindergarten in die Parteiakademie übergetreten?“

„Jedenfalls ist von ihm nicht zu erwarten, dass er die Partei vor eine Zerreißprobe stellt“, antwortete Albert hörbar eingeschnappt. Niedermayer war seine Entdeckung.

„Eine Zerreißprobe? Nur weil ich es ablehnte, die Gymnasien aufzugeben? Das ist doch lächerlich. Die Bundespartei ist übrigens auch dagegen.“

„Schon, aber andere Länder sind dafür, und der linke Flügel unserer Partei ebenfalls. Es ging auch nicht nur um die Gymnasien.“

„Worum sonst noch?“

„Es geht auch … also es ging auch … um … unser beider Vergangenheit.“

„Du meinst unser Verhältnis? Aber das haben wir doch schon vor mehr als einem Jahr beendet.“

„Ja, schon, aber unangenehm wäre so ein Outcome immer noch …“ Jutta lächelte unwillkürlich. Mit Fremdwörtern hatte er so sein Problem, der werte Herr Bürgermeister. „Du weißt ja selbst, unser lieber Vizebürgermeister ist nah am Ohr des Kanzlers – außerdem ist seine Frau mit meiner Frau befreundet.“

Deshalb hatte er sie fallen lassen? Aus Angst vor seiner Frau? Der Kanzler konnte ihm schließlich egal sein. „Für deine ach so unglückliche Ehe tust du wohl alles“, fauchte Jutta ins Telefon. Als er nicht gleich antwortete, beendete sie das Gespräch, atmete tief durch und ging langsam zur Terrasse zurück, wo ihre Mutter sich eben ein weiteres Stück Mohnkuchen auf den Teller legte.

„Magst du auch noch?“, fragte sie.

„Nein, danke. Dein neues Rezept ist zwar wirklich gut, aber auch ziemlich üppig. Du mit deinem Diabetes solltest es auch besser bei einem Stück belassen.“

„Ich streich nachher das Nachtmahl“, versprach ihre Mutter zwischen zwei Bissen, was Jutta bezweifelte, aber sie hatte im Moment keine Lust auf dieses Thema. Ihre Mutter würde sowieso nicht auf sie hören und Juttas Kopfschmerzen meldeten sich auch zurück. War ja zu erwarten nach einem Tag wie diesem. Sie würde besser nach Hause fahren. Die Gelegenheit, den Besuch zu beenden, war günstig. „Apropos Nachtmahl, da fällt mir ein, ich muss noch einkaufen gehen.“

„Apropos Einkaufen: Wovon willst du in Zukunft leben?“, antwortete ihre Mutter wie aus der Pistole geschossen.

„Nur keine Panik, ich werde euch bestimmt nicht auf der Tasche liegen. Ich habe ein wenig gespart, Zeit zum Geldausgeben hatte ich ja nicht. Außerdem könnte ich jederzeit Nachhilfestunden geben, und dann ist da ja immer noch Omas Häuschen.“

Das Gesicht ihrer Mutter verdüsterte sich. Dass Jutta das Haus ihrer Großmutter geerbt hatte und nicht ihr Vater, der einzige Sohn, war ihr offenbar immer noch ein Ärgernis. Dabei fehlte es den beiden doch wirklich an nichts.

„Das Haus verfällt zusehends, du solltest es entweder renovieren lassen oder verkaufen“, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort.

„Genau das habe ich vor. Zumindest habe ich jetzt Zeit, mich darum zu kümmern“, sagte Jutta, schnappte ihre Tasche und verabschiedete sich.

 

*

 

Jutta war auf dem Heimweg doch nicht mehr einkaufen gewesen, demgemäß knabberte sie nun lustlos an ein paar Salzbrezeln, die auch schon bessere Tage gehabt hatten. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie erst heiß geduscht, mit einem kalten Guss abgeschlossen und sich anschließend eine halbe Stunde ins Bett gelegt, wie ihre Freundin Bianca es ihr schon mehrfach geraten hatte. Tatsächlich waren ihre Kopfschmerzen besser geworden. Jetzt stellte sich die Frage: Aspirin oder Rotwein? Sie entschied sich für Rotwein, schenkte sich ein Glas ein und setzte sich damit vor den Fernsehapparat. Wie vermutet, kam der Beitrag über ihre unerwartete Ablöse schon in den Landesnachrichten. Kaum war er gelaufen, klingelte ihr Telefon. Ihr Exmann Walter.

„Wer stört?“

„Schön zu hören, dass du deinen Humor noch nicht verloren hast.“

„Wie du weißt, braucht es dazu mehr als ein paar wild gewordenen Stadträte.“

„Stimmt, aber zusammen mit einem illoyalen Bürgermeister könnten sie es doch schaffen. Wie geht es dir?“

„Bescheiden, was hast du denn gedacht.“

„Soll ich vorbeikommen?“

„Danke, Walter, das ist wirklich lieb von dir, aber ich ziehe heute Abend mein Bett als Gesellschaft vor. Solltest du jedoch in den nächsten Tagen Zeit haben, könnten wir uns in der Stadt treffen. Sag mir einfach Bescheid, ich habe ja bis auf Weiteres frei.“

„Willst du morgen zum Abendessen vorbeikommen?“

Keine gute Idee. Nicht, dass sie grundsätzlich etwas gegen seine Neue einzuwenden hatte, aber erstens war Nora eine miserable Köchin und zweitens hatte Jutta im Moment keinen Nerv für eine Runde Familienglück.

„Ein andermal gerne, aber diesmal würde ich ein Treffen in der Stadt vorziehen. Wir wollen Nora doch nicht mit Interna aus dem Rathaus langweilen.“ Walter, einer der leitenden Beamten des Rathauses, kannte immer eine Menge Klatsch. Manchmal waren auch interessante Informationen darunter – und vielleicht wusste er ja etwas über diese Reisekostengeschichte.

„Wie du willst, dann melde ich mich morgen, sobald ich meine Termine kenne. Halt die Ohren steif!“

„Mach ich, danke für deinen Anruf – und liebe Grüße an Nora.“

Jutta legte das Telefon zur Seite. In der Zwischenzeit lief im Fernsehen die Werbung. Zeit durchzuatmen und ein wenig die Augen zu schließen.

Sie war heilfroh, dass ihr Verhältnis zu Walter wieder so freundschaftlich war. Er mochte mitunter ein Langweiler sein, aber man konnte sich immer auf ihn verlassen. Zu dumm, dass ihre Lebensplanungen nie wirklich kompatibel gewesen waren. Als sie Kinder gewollte hätte, hatte sich Walter noch zu jung gefühlt. Kein Wunder, er war ja auch fünf Jahre jünger und kaum mit dem Studium fertig gewesen. Später hatte er sich eine Familie gewünscht, doch da war sie nicht mehr bereit dazu. Hätte sie damals nachgegeben und nicht die Politik gewählt, wer weiß, vielleicht wären sie heute noch zusammen. Gestern noch hätte sie gesagt, ihre Entscheidung sei auf jeden Fall goldrichtig gewesen – heute war sie nicht mehr ganz so sicher. Natürlich wusste sie, dass ein politisches Amt keine Lebensversicherung war, aber dass ihre Karriere so abrupt zu Ende gehen würde, hätte sie sich nicht träumen lassen.

Dabei hatte sie sich in den letzten Monaten mehrfach gefragt, ob sie wirklich in der Politik bleiben wollte. Natürlich war ihr klar gewesen, dass man als Politiker nicht dünnhäutig sein durfte, immer im Zentrum des Interesses stand und nur selten wirklich privat war – ganz so schlimm hatte sie es sich allerdings nicht vorgestellt. Wirkliche Freundschaften waren unter Politikern auch selten, aber dass Albert sie nach allem, was sie miteinander verbunden hatte, so sang- und klanglos fallen lassen würde, hätte sie trotzdem nicht geglaubt. Nicht, dass sie noch eine allzu hohe Meinung von seinen Tugenden hatte. Wäre ihre Ehe mit Walter nicht gescheitert, hätte sie sich vermutlich niemals auf ein Verhältnis mit ihm eingelassen. Aber sie war traurig gewesen – und wütend. Albert hatte ihr zugehört, Verständnis geheuchelt, von seiner Ehe gesprochen, die angeblich nur noch auf dem Papier bestand, ihr Komplimente gemacht, Blumen gebracht – das volle Programm eben.

Anyway. Jutta beschloss, sich nicht länger mit der Vergangenheit herumzuplagen. Über ihre Zukunft würde sie sich in den nächsten Tagen Gedanken machen. Heute wollte sie sich ablenken, vielleicht einen unkomplizierten Film ansehen. Ein Krimi wäre nicht schlecht. Nicht allzu blutrünstig, aber doch spannend. Ah, Commissario Brunetti, das war gut. Kaum war die Handlung in Fahrt gekommen, meldete sich ihre Freundin Lore. Erst wollte sie natürlich wissen, was geschehen war, dann vereinbarten sie ein Treffen für das kommende Wochenende.

„Schön zu wissen, dass man Freunde hat“, dachte Jutta. Der Krimi interessierte sie nun auch nicht mehr. Sie schaltete den Fernsehapparat aus und ging zu Bett.

 

*

 

Obwohl sie erstaunlich gut geschlafen hatte, waren die Kopfschmerzen am nächsten Morgen wieder zurück. Normalerweise hätte sie jetzt eine Tablette genommen und wäre ins Büro gefahren. Aber so wie die Dinge lagen, konnte sie sich endlich einmal um sich selbst kümmern. Sie rief ihre Freundin Bianca an. Bianca war Physiotherapeutin und Energetikerin und hatte ihre Kopfschmerzen schon öfter zum Verschwinden gebracht. Jutta nannte sie liebevoll „meine Hexe“.

„Kein Wunder, dass du verspannt bist, nach allem, was ich heute schon in der Zeitung gelesen habe. Sicher hast du dir vor lauter Verspannung wieder einen der Halswirbel verschoben.“

„Ist das jetzt eine Ferndiagnose?“, witzelte Jutta. Sie schätzte Biancas Fähigkeiten, die manuellen ebenso wie die übersinnlichen, aber manchmal waren sie ihr auch etwas unheimlich.

„Wirst schon sehen“, antwortete Bianca gelassen. „Lass mich mal im Kalender nachsehen. Hm, eigentlich bin ich heute voll, aber ich hänge dich einfach am Abend an und nachher trinken wir ein Glas Wein. Was meinst du?“

„Gute Idee. Was hältst du davon, wenn ich eine Sushiplatte mitbringe?“

„Wenn es eine große ist, sehr viel. Bei Sushi bin ich nämlich maßlos.“

„Ich weiß. Wird Peter auch da sein?“

„Eher nicht, aber selbst wenn, mag er kein Sushi. Also dann, bis heute Abend.“

Was jetzt? Nichtstun war für Jutta keine Option, Kopfschmerzen hin oder her. Sie würde erst einmal einkaufen gehen und sich anschließend ihre Notizen vornehmen. Sie hatte in den letzten Jahren immer wieder Ereignisse, aber auch pointierte Aussagen notiert, um eines Tages einen Politthriller daraus zu machen. Bisher hatte sie keine Zeit dafür gefunden – jetzt hatte sie Zeit, viel Zeit. Doch kaum hatte sie die Lebensmittel eingeräumt, rief Albert an.

Ohne Begrüßung fragte sie: „Habe ich etwas in meinem Schreibtisch vergessen?“

„Dir auch einen guten Morgen, liebste Jutta. Können wir uns heute sehen?“

„Musst du denn nicht meinen Nachfolger instruieren, damit er auch weiß, was er zu sagen hat?“

„Du kannst dir deinen Spott sparen. Mag sein, dass er nicht besonders kreativ ist, aber er ist zuverlässig. Zurück zu uns. 13 Uhr, bei der alten Jagdhütte?“

Die alte Jagdhütte im Stadtwald war seinerzeit ihr Treffpunkt gewesen, wenn sie weder Bekannte noch Journalisten treffen wollten. Die Erinnerung stimmte sie etwas milder. „Meinst du unsere Jagdhütte? Gibt es dort neuerdings ein Restaurant?“

„Hoffentlich nicht. Wir sollten unser Treffen besser geheim halten.“

  1. Jutta – Blockaden

Als Jutta sich abends auf den Weg zu Bianca machte, waren ihre Kopfschmerzen schlimmer denn je. Das Treffen mit Albert war ein Desaster gewesen. Sie hätte es sich ja denken können. Albert hatte ihr unumwunden gesagt, dass er sie schon länger für eine Fehlbesetzung gehalten hatte. Das einzig schmeichelhafte war die Begründung gewesen. Sie sei zu anständig und zu dünnhäutig. Dünnhäutig bezweifelte sie, mit anständig hoffte sie, dass er recht hatte – zumindest im Rahmen der politischen Möglichkeiten.

„Du weißt doch, wie es ist“, hatte er dann in jovialem Ton gesagt. „Jetzt, vor der Wahl, brauchen wir Ergebnisse.“

„Aber die Abschaffung der Gymnasien ändert doch nichts an unserem Bildungsproblem. Wir haben die Probleme ja nicht auf den Gymnasien, wir haben die Probleme schon an den Volksschulen, und wir importieren sie aus den Kindergärten.“

„Davon verstehe ich nichts“, hatte er unbekümmert geantwortet. Er schien auch noch stolz darauf zu sein.

Sie hatte ihn erst ungläubig angesehen, dann dämmerte es ihr langsam. Es ging ihm nicht um den Inhalt, er wollte einfach nur Ergebnisse – irgendwelche. Sinn oder Unsinn waren ihm vollkommen egal.

„Tja, für irgendwelche Ergebnisse ist Niedermayer sicher der bessere Mann. Mit seiner limitierten Intellektualität wird er sich deiner Skrupellosigkeit nicht in den Weg stellen können – nicht einmal, wenn er das eines Tages möchte.“

„Siehst du“, hatte Albert grinsend geantwortet. „So sieht unser Bundesparteivorsitzender das auch.“

Das Grinsen verging ihm augenblicklich, als sie ihm daraufhin mitteilte, dass sie noch heute aus der Partei austreten würde.

„Aber warum denn auf einmal? Ich wollte dir doch in keinster Weise nahe treten, ganz im Gegenteil!“

Idiot. Und überhaupt – wie steigerte der Mann denn eigentlich „kein“?

 

*

 

Nachdem Jutta bei ihrem Lieblingsjapaner die große Sushiplatte erstanden hatte und sich durch den abendlichen Stadtverkehr staute, überlegte sie, was nun zu tun war. Sie hatte den Brief hinsichtlich ihres Parteiaustrittes bereits formuliert, aber noch nicht abgeschickt. Das wollte sie morgen machen. Gleichzeitig würde sie die Presse von ihrem Schritt informieren. Wenn schon, denn schon. Sie wollte einen klaren Schnitt. Auch wenn Albert Stein nicht die Partei war, wollte sie mit einer Partei, in der es Typen wie Albert Stein an die Spitze schaffen konnten, nichts mehr zu tun haben. Der neue Bundesparteivorsitzende schien auch nicht besser zu sein, auch wenn man von ihm, dem Quereinsteiger, noch wenig wusste.

In der Zwischenzeit hatte sie die Vorstadt erreicht. Bianca wohnte in der Reihenhaussiedlung, in der auch Jutta mit Walter gewohnt hatte. Nach ihrer Trennung hat sie ihm das Haus überlassen – zu seinen Familienplänen hatte es besser gepasst – und sich eine Wohnung im Stadtzentrum genommen, das war schon immer ihr Traum gewesen. Seither war sie mehrfach hier gewesen, bei Bianca, aber auch bei Walter. Noch nie hatte sie der biederen Reihenhaussiedlung eine Träne nachgeweint. Heute dachte sie, dass das Wohnen am Stadtrand doch auch seinen Reiz haben konnte. Lag das nun am Frühling oder an ihrem angekratzten Allgemeinzustand?

Bianca öffnete und fiel Jutta zur Begrüßung wie immer um den Hals. Daran hatte Jutta sich ebenso gewöhnt wie an ihre stets verblüffenden Outfits. Heute trug sie eine Art Pluderhose aus einem schimmernden Stoff, hellblau, mit dunkelblauen Elefanten darauf. Dazu ein Oberteil aus dem gleichen Stoff und eine dunkelblaue Schärpe. Jutta fand, das Ganze erinnerte irgendwie an einen Pyjama – einen sehr edlen Pyjama.

„Wo hast du denn dieses Teil her?“, entfuhr es Jutta.

Bianca nahm es als Kompliment, drehte sich um die eigene Achse und sagte gut gelaunt: „Ist ein fast echtes Designerstück – nachgemacht, kennst mich ja. So etwas bekommst du nicht im Laden, zumindest nicht zu einem vernünftigen Preis.“ Das mochte stimmen. Jutta kleidete sich eher klassisch, hatte daher keine Vergleichsmöglichkeiten.

Bianca bewohnte ihr Reihenhaus gemeinsam mit ihrem Sohn Peter. Sie hatte sich im Keller ein Studio eingerichtet, in dem sie tagsüber ihre Klienten empfing und abends – zur Entspannung, wie sie betonte – Designerstücke wie dieses nähte.

Nachdem Bianca die Sushiplatte im Kühlschrank verstaut hatte, sagte sie: „Dann wollen wir deinen Blockaden einmal zu Leibe rücken. Ich tippe auf den zweiten Halswirbel. Leg ab.“

„Hast du das in deiner Kristallkugel gesehen?“

„Dazu brauche ich keine Kristallkugel, ich kenne dich und deine Wirbelsäule.“

Das stimmte allerdings. Bianca behandelte Jutta seit etwa fünfzehn Jahren. Damals waren sie gleichzeitig hier eingezogen, direkt nach der Fertigstellung der Reihenhausanlage.

Kaum lag Jutta auf der Behandlungsliege, spürte sie einen stechenden Schmerz.

„Au! Was machst du denn mit mir?“

„So schlimm? Dabei habe ich dich noch gar nicht berührt.“

Jutta atmete tief ein und aus, der Schmerz kam noch einmal, doch nicht mehr ganz so heftig. Dann spürte sie, wie der bohrende Kopfschmerz langsam abebbte. Bald darauf war sie eingeschlafen.

„Langsam aufstehen“, war das Nächste, was sie hörte.

„Schnell geht ohnehin nicht, ich fühle mich ganz weggetreten.“

„Kein Wunder, du schläfst seit einer knappen Stunde. Was macht der Kopfschmerz?“

„Solange ich nicht dran denke, ist er weg.“

„Das sollte er auch bleiben. Allerdings könnte es sein, dass du in den nächsten Tagen Muskelschmerzen bekommen wirst, aber das kennst du ja.“

Stimmt. „Tausche Kopfschmerz gegen Muskelschmerz“, hatte Walter sie manchmal geneckt. Der Glückliche kannte keine Kopfschmerzen, sonst hätte er gewusst, dass das ein ausgesprochen guter Tausch war.

„Möchtest du Jasmintee?“, fragte Bianca, während sie in die Küche gingen, Teller bereitstellten und Schälchen mit Sojasauce füllten.

„Ein Bier wäre mir ehrlich gesagt lieber.“

„Bier? Bäh, grauslich. Aber du hast Glück, Peter trinkt neuerdings Bier, seither sind immer ein paar Flaschen zu Hause. Wie du siehst, kein Nachteil ohne Vorteil.“

„Wieso ist es ein Nachteil, wenn Peter Bier trinkt? Trinkt er exzessiv?“

„Als Nachteil sehe ich, dass er bereits achtzehn ist, bald seinen Schulabschluss macht und im Herbst nach Berlin geht, um dort zu studieren.“

„Das wird sicher eine Umstellung für dich werden“, räumte Jutta ein. „Warum Berlin?“

„Frag mich etwas Leichteres. Voraussichtlich geht er erst nach Berlin, dann ein Jahr nach London und danach nach Bologna.“

„Und was genau studiert er dort?“

„Irgendetwas mit internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Sicher hat ihm das sein Erzeuger eingeredet.“

„Vielleicht interessiert es ihn ja.“

„Das behauptet er zumindest.“

„Aber es könnte doch stimmen“, grinste Jutta.

„Schon möglich“, meinte Bianca und reichte Jutta die Sushiplatte. „Jedenfalls werde ich das Haus aufgeben. Für mich allein ist es zu groß. Außerdem träume ich schon länger von einem Laden, in dem ich meine Essenzen und Öle verkaufen kann.“

„Und du meinst, das lohnt sich?“

„Sicher, wenn der Laden in entsprechend frequentierter Lage ist.“

Jutta sah ihre Freundin prüfend an und stellte die Platte wieder ab. „Jetzt sag schon, du hast doch etwas in petto.“

„Allerdings. Ich habe mir vorgestern in der Fußgängerzone ein Geschäftslokal mit Wohnung angesehen. Am Montag unterschreibe ich den Vorvertrag. Bringst du schon einmal die Sushiplatte ins Wohnzimmer? Mein Tee ist gleich fertig.“

Jutta ging voraus. Auf dem Esstisch stapelten sich Bücher, auf der Sofaecke lagen neben zahlreichen Kissen und Biancas Kater einige Kleidungsstücke, die offensichtlich Peter gehörten. Jutta entschied sich für die Sofaecke und stellte erst mal die Platte ab. Der Kater verließ fluchtartig seinen Platz und miaute vor der Terrassentür.

„Darf der Kater hinaus?“, rief sie in die Küche.

„Meinetwegen“, antwortete Bianca, die soeben mit den Getränken nachgekommen war.

„Wie schaut’s denn hier aus? Siehst du, wie ich gesagt habe: Kein Nachteil ohne Vorteil.“ Dann stellte sie die Getränke ab und ließ den Kater in den Garten. „Peter wird mir fehlen. Seine Unordnung nicht. Wozu der Bub ein eigenes Zimmer hat, ist mir ein Rätsel. Scheinbar nur zum Chillen.“

„Er ist eben gerne mit dir zusammen.“

„Daran kann‘s nicht liegen. Unmittelbar nach der abendlichen ‚Fütterung‘ geht er entweder aus oder auf sein Zimmer.“

„Aber ihr habt doch immer so ein gutes Verhältnis gehabt.“

„Schon, aber in seinem Alter ist das ein ziemlich relativer Begriff. Jedenfalls verbringt er seine Ferien wieder einmal in der Toskana.“

„Bei seinem Vater?“

„Bei seinem Erzeuger. Außer seinem Samen und etwas Geld hat er ja wenig beigetragen.“

„Kann es sein, dass du in dieser Sache nicht ganz objektiv bist?“, fragte Jutta, die immerhin wusste, dass Peters Erzeuger alles Mögliche versucht hatte, um Bianca und seinen Sohn in die Toskana zu holen. Bianca schien auf dieses Thema keine Lust zu haben, denn sie antwortete nur: „Möglich. Jedenfalls bin ich hier bald weg.“

„Hast du dir das auch gut überlegt?“

„Yes!“

„Hast du den Vorvertrag von einem Juristen prüfen lassen?“

„Das nicht, aber ich habe alles genau ausgependelt. Sehr viel positive Energie. Ich habe einfach ein total gutes Gefühl und der Mann hatte eine ausgesprochen angenehme Aura. Glaub mir, das Objekt gehört genau in meinen Lebensplan. Es ist zwar ein wenig sanierungsbedürftig, aber es hat im Erdgeschoss einen kleinen Laden, darüber eine Ebene mit etwa hundert Quadratmetern, ideal für mein Studio, und im Dachgeschoss werde ich wohnen. Was sagst du?“

„Ist das nicht irre teuer?“

„Geht so. Wie gesagt, es ist sanierungsbedürftig und die Aufteilung der Räume ist zwar für mich ideal, aber sicher nicht jedermanns Sache.“

„Und wer ist der Mann mit der tollen Aura? Der Makler?“

„Der Vermieter. Sein Buchladen liegt neben meinem Geschäft. Den Buchladen kennst du vermutlich. ‚Brühls Bücher‘ genau vis-à-vis der Pestsäule.“

„Brühls Bücher kenne ich natürlich, aber ich glaube nicht, dass ich den Chef je gesehen habe. Zumindest ist mir kein Mann mit einer so tollen Aura aufgefallen“, erwiderte Jutta mit einem Zwinkern.

„Der wäre dir aufgefallen, glaub mir. Groß, schlank, …“

„Schwarzes, lockiges Haar“, ergänzte Jutta grinsend.

„Eher grau meliert und streng gescheitelt. Außerdem ist er Anzugträger, sonst nicht so mein Typ, wie du weißt, aber der Mann hat was.“

„Wenn er dir so gut gefällt, würde ich dir umso mehr raten, den Vertrag von einem Juristen prüfen zu lassen. Soll ich Walter fragen? Ich treffe ihn morgen zu Mittag. Das macht er sicher gerne.“

Bianca schien darüber nachzudenken, denn sie blieb eine ganze Weile still.

Dann klingelte Juttas Handy.

  1. Bianca – Verträge

Während Jutta telefonierte – scheinbar mit Albert, denn sie reagierte ziemlich gereizt -, dachte Bianca über Juttas Vorschlag nach.

„Da Walter chronisch hilfsbereit ist, befürchte ich tatsächlich, dass er das gern macht“, überlegte sie und nippte an ihrem Jasmintee. Sie wusste Juttas Besorgnis durchaus zu schätzen, aber sie würde die Sache mit Doktor Brühl doch lieber allein durchziehen. Der Mann hatte eine so tolle Aura, was sollte denn da schon schiefgehen? So konnte sie das Jutta allerdings nicht sagen. Die ließ sich zwar gerne ihre Kopfschmerzen wegmassieren, wie sie es nannte, wenn Bianca ihre Blockaden löste, doch im Grunde war sie eher für harte Fakten.

Von Walter erst gar nicht zu reden, der war zwar auch nach der Trennung von Jutta der hilfsbereite Nachbar geblieben, aber das änderte nichts daran, dass er Biancas Arbeit für Firlefanz hielt, wenn er das auch niemals so sagen würde. Behandeln hatte er sich allerdings noch nie lassen, obwohl gerade er mit seinen ewigen Magenproblemen ihre Hilfe hätte gebrauchen können. Ob er eigentlich wusste, dass seine Nora neulich mit der Kleinen da gewesen war, als Mutter und Kind diesen Husten nicht in den Griff bekamen? Kein Wunder, dass die beiden husteten, wenn Nora es ständig allen recht machen wollte. Der Husten war doch nur das Symptom. Nora schien solchen Überlegungen gegenüber etwas aufgeschlossener zu sein als Jutta oder gar Walter.

Gedankenverloren griff Bianca sich ein Butterfisch-Sushi und tunkte es in Sojasauce. Sie liebte Butterfisch-Sushi. Ihre Gedanken kehrten zurück zu ihrem neuen Domizil. Sie wollte ihre Freunde nicht vor den Kopf stoßen und wenn ihre Einschätzungen sie nicht täuschten, wovon sie ausging, würde der Vertrag wohl in Ordnung sein.

Nachdem Jutta ihr Telefonat beendet und mit einem kräftigen Schluck Bier hinuntergespült hatte, sagte Bianca: „Ich werde Walter den Vertragstext noch heute mailen. Wenn er einen Blick darauf wirft, kann es schließlich nicht schaden.“

Damit gab Jutta sich dann auch zufrieden.

 

*