Lesepr.Paragrafen und Grafen

1. Endlich Urlaub

Als Irene frühmorgens losfuhr, war prachtvolles Frühlingswetter. Sie freute sich auf Bewegung und frische Luft und merkte erst jetzt, wie sehr ihr das gefehlt hatte. Dabei hatte sie noch gestern das Gefühl gehabt, dieser Urlaub käme zur Unzeit – aber das hatte sie schließlich immer.

Zwei Stunden später traf sie auf dem Stadler-Gut ein.

Der ehemalige Gutshof leuchtete in kaisergelb, die Holzbalustraden waren mit Blumenkästen geschmückt, aus denen bunte Frühlingsblumen lachten und der mächtige Kastanienbaum im Innenhof stand in voller Blüte.

In ihren Teenagertagen war sie mit ihrer Freundin Sandra und deren Eltern hier gewesen und vor einigen Jahren hatten sie das Hotel gemeinsam mit ihrem Exmann wieder entdeckt. Eigentlich hatte sie vorgehabt, nie wieder zu kommen. Aber Sandra hatte ja recht, das Hotel und der Golfplatz waren wunderschön, warum sollte sie nicht hier Urlaub machen.

Das Mädchen an der Rezeption teilte ihr mit, dass das Zimmer fertig sei, und sie war froh, bis zur Ankunft ihrer Freunde nicht untätig herumsitzen zu müssen.

Die kleine Suite war hübsch eingerichtet und hatte eine Terrasse Richtung Golfplatz. Irene konnte es plötzlich kaum erwarten, hier zu sitzen und zu träumen. Stattdessen räumte sie ihre Kleidung in den Kasten und ertappte sich dabei, bei jedem Polo-Shirt zu fragen, ob sie dieses bei ihrem Urlaub mit Jochen auch schon gehabt hätte.

Um sich abzulenken, beschloss sie, die Zeit bis zu Sandras Ankunft im Pro-Shop zu verbringen, doch als sie sich auf den Weg machen wollte, fuhr Günther seinen flotten Sportwagen schnittig in den Innenhof. Zu schnittig, wie sie dachte.

Sie nahmen einen leichten Imbiss, stießen mit einem Glas Prosecco auf ihre Urlaubstage an und begaben sich auf die erste Golf-Runde.

Am Abend saßen sie in der gemütlichen Gaststube, aßen mit gutem Appetit, tranken ein Glas Wein und beim Zubettgehen stellte Irene erstaunt fest, dass sie seit Sandras Ankunft zu beschäftigt gewesen war, um an Jochen zu denken. Dankbar schlief sie ein.

Auch der nächste Morgen begrüßte sie mit Sonnenschein. Sie genossen das ausgiebige Frühstück, eine neue Golfrunde und danach ein paar ruhevolle Stunden.

Nach dem Essen kam Frau Martens, die Geschäftsführerin, an ihren Tisch, plauderte über dies und das und fragte nach Irenes Mann. Mit knappen Worten berichtete sie, dass sie seit zwei Jahren geschieden war.

„Sie auch“, fragte Frau Martens, schnappte sich einen Stuhl, bestellte ein Glas Wein und wollte Genaueres wissen.

Davor hatte sich Irene gefürchtet. Wenn die Trennung auch schon bald zwei Jahre zurücklag, mied sie dieses Thema immer noch wie der Teufel das Weihwasser. Dennoch antwortete sie sachlich und, wie sie zu ihrer Überraschung bald feststellte, erstmals ohne jenen bohrenden Schmerz, der seit Jochens Abgang ihr ständiger Begleiter gewesen war. Bewegung in frische Luft ist eben auch gut für die Seele – der spritzige Wein aus der Südsteiermark mochte ein Übriges getan haben, dachte sie beim Zubettgehen.

Während sie die Zähne putzte, ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren. Frau Martens hatte eine Runde vom heimischen Apfelschnaps spendiert und dabei erzählte, dass auch Graf Nestelbach, der Besitzer des Gutes, in der Zwischenzeit geschieden war.

Seine lebenslustige Frau war mit dem Buchhalter durchgebrannt und dieser hatte, wohl um seiner neuen Gefährtin den geeigneten Rahmen zu bieten, ein paar Sparbücher mitgenommen. Strafrechtlich hatte man die Sache nicht verfolgt, denn die Ex-Ehefrau hatte in letzter Minute auf alle Ansprüche verzichtet. Na dann, dachte Irene, muss es doch Liebe gewesen sein.

Dieser Graf musste aber auch ein komischer Kauz sein, so eine Mischung aus altmodischem Familienoberhaupt und trockenem Geschäftsmann.

Da es Sonntagmorgen regnete, machten sie nach dem Frühstück einen Spaziergang zum Wehr und sahen zu, wie die Wassermassen der Mur donnernd in die Tiefe stürzten. Dann folgten sie einem asphaltierten Weg und landeten gegen Mittag beim Jaga-Wirt. Nach einer herzhaften Jause hatte es zu regnen aufgehört, sodass sie den Heimweg schon wieder bei Sonnenschein zurücklegen konnten. Als sie es sich danach auf der Couch bequem machte, dachte sie: Ich habe Sandra schon lange nicht so gelöst und glücklich erlebt, hoffentlich wird sie eines Tages nicht so enttäuscht wie ich. Irgendwie war Günther fast zu perfekt.

Beim Abendessen brachte sie das Gespräch auf die Kindheit, auch Günther erzählte: Seinen Vater habe er kaum gekannt und seine Mutter hatte ihn die längste Zeit bei den Großeltern geparkt. Der Großvater sei längst verstorben, die Großmutter hätte er in einem hübschen Seniorenheim untergebracht und mit der Mutter stünde er ständig vor Gericht, einer Immobiliensache wegen. Als Anwältin hätte Irene gerne mehr gewusst, aber die Stimmung war so heiter und unbeschwert, dass sie das Thema nicht weiter verfolgte. Ihr Misstrauen gegen ihn hatte sich in den letzten Tagen gelegt und nach seinen heutigen Erzählungen dachte sie, es sei vielleicht kein Wunder, dass er immer etwas kühl und distanziert wirkte.

„Schade, dass du wieder fahren musst“, meinte Sandra am Montagmorgen und küsste Günther ausführlich. Dann begab sie sich mit Irene auf die Runde. Sie fühlte eine gewisse Wehmut und meinte bald: „Irgendwie scheint mir der Himmel heute weniger blau, die Narzissen weniger gelb und die Apfelblüten weniger üppig.“

„So ist das eben, wenn man verliebt ist“, antwortete Irene.

„Daran kannst du dich noch erinnern?“

„Flüchtig.“

Auch Irene schien nicht so recht bei der Sache und hatte vermutlich deshalb das Mauseloch am16. hole übersehen. Sie stolperte so ungeschickt, dass sie einen lauten Schmerzensschrei ausstieß, und in einer kurzen Ohnmacht zusammensank.

Zwar war sie nach wenigen Sekunden wieder bei Bewusstsein, doch sie schien Sandra recht blass und der Versuch ihr auf die Beine zu helfen scheiterte, weil sie den linken Fuß nicht belasten konnte, ohne vor Schmerzen aufzuschreien.

„Es hilft nichts, wir müssen warten, bis jemand vorbei kommt“, sagte Irene und blieb im Gras sitzen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein Arbeiter mit einem Traktor vorbei kam. Er besah sich Irenes Knöchel, kratzte sich den Kopf und versprach den Chef zu holen.

Der nächste vorbeikommende Flight bot ebenfalls seine Hilfe an und einer der Herrn konnte Irene immerhin soweit stützen, dass sie zur nächstgelegenen Bank hüpfen konnte.

Kaum saß Irene auf der Bank, kam ein Mann angefahren, vielleicht Anfang vierzig, groß und stattlich. Er machte nicht viele Worte, öffnete ihren Schuh, zog ihr den Socken aus und besah sich den ziemlich geschwollenen Fuß. Dann machte er damit eine kurze Bewegung, die Irene aufschreien ließ.

„Eine Zerrung, nichts weiter. Ich bringe sie jetzt auf ihr Zimmer und hole eine Salbe.“

„Und das können Sie beurteilen?“, fragte Irene skeptisch.

„Allerdings.“

„Stolpern bei euch laufend Golfer?“

„Das nicht, aber ich bin Arzt.“

„Oh Pardon, ich dachte Greenkeeper.“

„Das auch.“

Er hob sie hoch, setzte sie ins Car und fuhr davon. Als er wenig später wieder kam und ihr die Salbe auf den geschwollenen Knöchel massierte, kam Sandra im Eilschritt angetrabt: „Sollten wir nicht doch besser einen Arzt aufsuchen?“

„Das ist nicht notwendig“, antwortete er und schien keinen Einwand zu erwarten. Er empfahl Irene ein wenig zu ruhen und ging. Kaum war er wag sagte Sandra: „Das ist ja schön und gut, aber wir rufen jetzt einen Arzt.“

„Er ist doch Arzt.“

„Angeblich. Welche Fachrichtung?“

„Keine Ahnung, ich habe dir bereits alles gesagt, was ich weiß. Er ist Arzt und Greenkeeper.“

„Und impertinent“, ergänzte Sandra.

„Aber irgendwie – ganz angenehm.“